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GEDRUCKTES IST TOT

"ICH SEHE WAS, WAS DU NICHT SIEHST": PSYCHOANALYTISCHE FILMINTERPRETATIONEN (2010, 1. Auflage)
von Jenny Jecke

Original Titel. "ICH SEHE WAS, WAS DU NICHT SIEHST": PSYCHOANALYTISCHE FILMINTERPRETATIONEN
Seiten. 230

Autor. THEO PIEGLER

Review Datum. 2010-08-29
Erscheinungsdatum Deutschland. 2010-04-01
Verlag. PSYCHOSOZIAL-VERLAG

Erscheinungsformat. PAPERBACK
Sprache. DEUTSCH

TITANIC, James Camerons epischer Schiffbruch von einem Film, ist in Wirklichkeit nichts weniger als die Darstellung der Ablösungskrise einer Adoleszenten. Die Adoleszente heißt Rose, die Krise wird symbolisiert durch den sich zur falschen Zeit am falschen Ort befindlichen Eisberg. Die Titanic selbst verkörpert die Welt ihrer Eltern, welche sie mit Hilfe Jacks hinter sich lässt. Kurz gefasst ist dies die Deutung Klaus Augustins, Facharzt für Psychotherapie und Psychoanalytiker aus Hamburg. Augustins Ausführungen gesellen sich in der von Theo Piegler herausgegebenen Sammlung ICH SEHE WAS, WAS DU NICHT SIEHST zu anderen psychoanalytischen Filminterpretationen.

Allesamt wurden die Texte geschrieben von Ärzten und Psychologen, nicht Filmwissenschaftlern. So logisch die Autorenwahl bei Betrachtung des Titels auch klingt, sei erwähnt, dass die Psychoanalyse in der Filmwissenschaft kein Fremdwort ist. Der Rückgriff auf Sigmund Freud und Jacques Lacan hat vielmehr eine recht lange Tradition, wenn es um die Analyse von Filmen, aber auch die Natur des Kinos selbst geht. Seit den siebziger Jahren, u.a. dank der Arbeiten von Christian Metz, ist sie Grundstock jedes einführenden Handbuchs zur Filmtheorie. Ob der FiWi-Student nun will oder nicht. Was die Beiträge in ICH SEHE WAS, WAS DU NICHT SIEHST nun hervorstechen lässt, ist die Tatsache, dass Autoren zugleich fachfremd, aber dennoch Spezialisten sind und sich an Klassiker der Filmgeschichte wagen. Augustin, Piegler und die anderen sind therapieerprobt, nicht nur Theoretiker.

Wahrscheinlich lassen sich darauf die Vor- und Nachzüge der Aufsatzsammlung zurückführen. Denn die Herangehensweise an TITANIC, DAS FEST, DER HERR DER RINGE und die anderen "Patienten" erinnert an die Praxis: Die Haupt- und Nebenfiguren der dreizehn Filme werden sozusagen auf die Couch gelegt. Konkret bedeutet dies zunächst, und hierbei handelt es sich um ein zentrales Problem des Buches, dass die Analysen ganz einfach nicht filmisch sind. Würden die Aufsätze von literarischen Figuren handeln, würde man wohl keinen Unterschied bemerken. Nur in Ausnahmefällen wird etwa die Bewegung der Kamera aufgegriffen, von der Montage ganz zu schweigen. Für den Psychoanalyse-Newcomer mag das nicht allzu relevant sein, doch die Bedeutung der formalen Mittel, z.B. bei der Konstruktion von Blicken (Wie sehen wir die Figuren an? Wie sehen die Figuren sich gegenseitig an?), kann gerade die Figurenanalyse bereichern. Das ist nur ein Beispiel aus einer Vielzahl von Themenspektren, die in die psychoanalytische Filmtheorie Eingang gefunden haben und diese abseits altbekannter Stichwörter, wie den Ödipus-Komplex, auch für Freud-Skeptiker von Interesse werden lassen.

Akzeptiert man den Mangel an Filmwissenschaft in den Filminterpretationen, bieten die Texte durchaus neue Einsichten in z.T. übersehene Werke. Ist die Auftakt-Interpretation von DAS FENSTER ZUM HOF angesichts der Unmengen an Hitchcock-Literatur aus diesem Theoriekreis ganz klar überflüssig, holen die Aufsätze über MARY SHELLEYS FRANKENSTEIN, DAS FEST und BILLY ELLIOT den qualitativen Rückstand eindeutig wieder auf. Gerade Gabriele Hohage-Staudts Text macht Lust auf Kenneth Branaghs etwas größenwahnsinnigen Monsterfilm. Eine große Bereicherung sind solche wissenschaftlichen Texte über Filme schließlich auch für Laien, wenn man ein Werk mit neuen Augen sieht, dem man zuvor vielleicht nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat. "Entdeckung" heißt das Zauberwort, das trotz Fremdwörternutzung möglich sein kann. Wenn FRANKENSTEIN als narzisstische Tragödie charakterisiert wird, braucht der Leser jedoch ein Mindestmaß an psychoanalytischem Vokabular - oder Wikipedia. Ich, Es, Über-Ich, Triangulierungen, ödipale Konflikte und infantil-libidinöse Triebwünsche bevölkern die Aufsätze und werden dem Laien nur selten erklärt. Als Einführungsbuch sicher nicht zu empfehlen ist ICH SEHE WAS, WAS DU NICHT SIEHST. Doch auch für Kenner der Materie, die schon den ein oder anderen filmwissenschaftlichen Aufsatz gelesen haben, bietet sich ein qualitatives Auf und Ab. Dem merkt man allzu oft an, dass die Autoren eben nur Spezialisten in einem der Gebiete sind, die sie hier beackern. Wer allerdings schon immer mal erfahren wollte, warum Frodo Beutlin gegen Ende von DER HERR DER RINGE so gestresst aussieht (Spoiler: Es ist die Kastrationsangst!), dem sei "ICH SEHE WAS, WAS DU NICHT SIEHST": PSYCHOANALYTISCHE FILMINTERPRETATIONENwärmstens ans Herz gelegt.


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