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Siegfried, der Held aus Niederland im hochmittelalterlichen Nibelungenlied, ist eine coole Sau. Er schmiedet sich sein eigenes Schwert, tötet einen Drachen, badet sich in dessen Blut, sodass er unverwundbar wird, reißt sich den gewaltigen Nibelungenhort unter den Nagel, unterwirft zwölf Könige, fährt nach Worms, die über alle Maßen schöne Kriemhild zu umwerben und stellt sich dort am Königshof der Burgunden mit der Ankündigung vor, alles Land an sich zu reißen. Und sieht dabei auch noch verdammt gut aus. Zunächst kann der Kraftprotz besänftigt und an den Wormser Hof gebeten werden. Doch seine exorbitante Stärke bedroht fortwährend die herrschende Ordnung, macht ihn unkontrollierbar und damit nicht integrierbar. Ganz ähnlich Brünhild, die schöne Amazonenkönigin aus Island, die jeden Mann, der um sie wirbt, zum Wettkampf zwingt. Nur durch List und unter Mithilfe Siegfrieds gelingt es dem Burgundenkönig Gunther, sie zu besiegen und ihren Willen zu brechen.
In soziologischer Hinsicht ließe sich sagen, Siegfried wird als Teil eines komplexen gesellschaftlichen Machtgefüges diskriminiert, denn er entspricht nicht der herrschenden Norm. Brünhild wird ihrer Stärke beraubt und dem Patriarchat untergeordnet. So fasst es Astrid Lembke in ihrem Beitrag "Umstrittene Souveränität" zusammen, einer von neun Aufsätzen, die Nataša Bedekovic u. a. in dem Sammelband DURCHKREUZTE HELDEN herausgegeben haben. Die MediävistInnen haben es sich zum Ziel gemacht, die sozialwissenschaftliche Disziplin der Intersektionalitätsforschung literaturwissenschaftlich anzuwenden. Diese untersucht wie sich Merkmale der Privilegierung und Marginalisierung überkreuzen: Geschlecht, Klasse, ‚Rasse‘, Nation, Religion, Sexualität, Behinderung und Alter führen je nach Kombination zum Ausschluss von Individuen in einer spezifisch normierten Gesellschaft. Die Rechtswissenschaftlerin Kimberlé Crenshaw nannte das "intersektionelle Unsichtbarkeit".
Als konkret moderner und auf das demokratische Zusammenleben bezogener Ansatz ist die Intersektionalitätsforschung streng genommen nur auf unsere Zeit anwendbar. Neben der literaturwissenschaftlichen Erprobung ist es deshalb das zweite Ziel des Sammelbandes, die Disziplin mit einer historischen Perspektive zu verbinden. Das hat den Vorteil, in zurückliegenden literarischen Epochen Ausschließungsstendenzen und ihre Ursachen zu identifizieren. Der Nachteil liegt darin, dass moderne und zeitgenössische Begriffe nicht ohne Weiteres auf vormoderne Gesellschaftsformen applizierbar sind. Andreas Krass nutzt das umfangreiche Vorwort neben der knappen Skizzierung von Anfängen und Tendenzen der Intersektionalitätsforschung dazu, die "intersektionellen Kategorien" zu historisieren. Das gelingt insoweit, als dass ein Begriff wie Klasse, der im Hochmittelalter aufgrund der Ständeordnung keine Rolle spielt, sich durch den des Standes ersetzen lässt. Problematisch allerdings wird es, wenn ‚Rasse‘ auf das Mittelalter angewandt werden soll. Für das Hochmittelalter ist er nicht bekannt. Zudem ist im Unterschied vom US-amerikanischen zum europäischen Gebrauch des Wortes - und darin ist noch einmal der im deutschsprachigen Raum abzugrenzen - eine Kontextualisierung unabdingbar. Man denke an Kolonialisierung, Sklaverei, Holocaust.
Gerade bei der schwierigen Aufgabe, den Begriffsapparat diachron zu übertragen, liegt das besondere Interesse der Intersektionalitätsforschung an der kulturellen Vergangenheit, wie sie in vornehmlich literarischen Zeugnissen konserviert ist. Zieht man zur textlichen Analyse nun moderne Zeugnisse hinzu, lässt sich aufgrund der verschiedenen Inszenierungsstrategien im medialen Ausdruck der Zeit erkennen, was zu Marginalisierung und Diskriminierung führt. So setzen die MediävistInnen als Untersuchungsgegenstand neben das Nibelungenlied, niedergeschrieben um 1200, Fritz Langs DIE NIBELUNGEN (1924) und Thea von Harbous Nibelungenbuch (1923). Deutlich wird, dass von Harbou und Lang rassisierende Merkmale nutzen, um einen Kontrast zwischen den einzelnen vorgestellten Welten zu markieren. Lang sprach von "vier Welten", die er darstellen wollte und die möglichst weit voneinander entfernt sein sollten.
Nibelungenfilm und Nibelungenbuch folgen in den Handlungsgrundzügen dem Epos. Nachdem Siegfried zum Opfer einer Intrige und von den Burgunden ermordet wurde, heiratet seine Witwe Kriemhild den Hunnenkönig Etzel. Dies aus Kalkül, um sich der Treue und Macht des "Herrn der Erde" zu bedienen und um schließlich den Tod des geliebten Siegfried zu rächen. In ihrem Beitrag "In/Kommensurabilität" zeigt Nataša Bedekovic wie ‚Rasse‘ je verschieden artikuliert wird. Dazu legt sie dem Begriff ein "analytisch-heuristisches[s] Verständnis" statt eines ontologischen zugrunde. Was nichts anderes bedeutet, ‚Rasse‘ als ein Differenzierungsmerkmal zu verstehen und im Text nach allem zu suchen, was die als Außenseiter Bezeichneten von den normbildenden anderen unterscheidet. Während das Nibelungenlied Völker allein aufgrund der Religion (Christentum vs. Heidentum) unterscheidet, die allerdings durch die Taufe des Hunnenkönigs überwunden wird, treffen von Harbou und Lang physiognomische Differenzierungen. Die Nibelungen erscheinen als zwergenhafte Waldbewohner, nackt, hässlich und behaart; die Burgunden dagegen sind in lange, den Körper verhüllende Gewänder gekleidet, umgegeben von ornamentierten Räumen - eine "überfeinerte" Kultur wie es Lang nannte; der Hofstaat Brünhilds ist martialisch bewaffnet; die Hunnen werden wild, schmutzig und sittenlos gezeigt, Etzel als "der Asiate" benannt. Siegfried wandelt zwischen diesen Welten als selbst noch über den Tod hinaus strahlender Held, blond, muskulös, potent.
Leider greift Bedekovic zu weit, wenn sie einen Bildausschnitt aus Langs DIE NIBELUNGEN, als Kriemhild am Hunnenhof ankommt, heranzieht und von einem "Pfuhl" spricht, der inmitten von Etzels Thronsaal den Boden bedecken soll. Hierbei handelt es sich jedoch um Stroh und Kehricht. Oder wenn sie auf die "Schwarz-Weiß-Ästhetik" des Films abhebt, die der Kontrastierung zwischen den Welten dient, wäre dies zumindest unter der Viragierung des Bildes zu werten. Im Zuge der bisher umfangreichsten und teuersten Restaurierung des Films durch die Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung wurde anhand von Verleihkopien die Orange-Einfärbung des Bildmaterials wiederhergestellt. Kriemhilds Falkentraum, der vom Tod Siegfrieds kündet, gestaltet als eine animierte Scherenschnittsequenz von Walther Ruthmann, ist gar in einem feinen Lavendelton eingefärbt. Von einer Schwarz-Weiß-Ästhetik ließe sich nur noch bedingt sprechen.
Neben der Untersuchung von verschiedenen Männlichkeitskonzepten (Peter Somogyi: Hegemoniale Männlichkeit) und einzelner Paarbeziehungen (Ninja Roth: Erste Begegnungen) erfreuen vor allem die kleineren Untersuchungsfelder, werfen sie doch einen Blick auf die rassisierenden Konstruktionsmechanismen von Langs Film. Etwa die dargestellten Essgewohnheiten der verschiedenen Völker: die Nibelungen machen sich über rohes Fleisch her; die Hunnen braten ganze Ochsen am Spieß, in riesigen Kesseln brodeln Brei und Suppe; die zivilisierten Burgunden sind dagegen gar nicht beim Essen zu sehen, das Essen erfüllt bei ihnen einen rein rituellen Zweck (Lisa Pychlau-Ezli: Gottesbrot und Menschenbrei. Essen als Zeichen sozialer Differenzierung). Oder Regina Toepfers Beitrag zu den Frauen von Bechelaren. Rüdiger von Bechelaren ist ein Verbündeter Etzels, durch die Hochzeit seiner Tochter Dietlind mit Giselher, dem jüngsten Burgundenkönig, aber auch den Burgunden zur Treue verpflichtet. Seine Frau Gotelind übernimmt im Nibelungenlied wichtige repräsentative Aufgaben. Im Film werden die Frauen unsichtbar gemacht, entweder weil sie zugunsten der straffen Dramaturgie mit anderen Figuren zusammengelegt wurden oder nachdem Rüdiger im Kampf gefallen ist.
Der größte Gewinn der historischen Intersektionalitätsforschung, wie sie im Band DURCHKREUZTE HELDEN methodisch aufgerissen wird, ist der intermediale Vergleich von hochmittelalterlichem Nibelungen-Epos mit den modernen Versionen des Stoffes. Zeigt er doch, welche Strategien der Ausschließung und des Unsichtbarmachens Einzelner in einer heteronormativ geprägten Gesellschaft sich durch die Zeit hinweg ändern. Und es zeigt, das ein Overachiver wie der gute Siegfried einer war, am Ende gar keine coole Sau ist, sondern bloß ein armes Schwein.
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