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Och, über Kevin müssen wir eigentlich gar nicht reden. Der ist halt bestenfalls ein Arschlochkind, schlimmstenfalls eine leibhaftige Teufelssaat, man will (und muss) sich da gar nicht so unbedingt festlegen. Rein physiognomisch toll gecastet ist er jedenfalls in allen drei Lebensphasen - Kleinkind, Grundschüler, Teenager -, hat Schlangenäuglein, sehnige Wangen und einen maliziös gekräuselten, viel zu roten Mund. Tilda Swinton als Mutter ist damit von Geburt an überfordert, John C. Reilly als knautschbäriger Vater hingegen mit Blindheit dem gegenüber geschlagen, was seine Frau als Böses im Kinde wahrnimmt. Mit paranoischen Uneindeutigkeiten - is it in her head oder doch real? - hält der Film sich gar nicht erst auf, sieht von Anfang an immer wieder, wehe wehe, ans in klassischen Katastrophenmotiven gehaltene Ende: Polizeikordon, Sirenenlicht, Menschen mit aufgerissenen Mündern. Was hat der Junge da bloß wieder angestellt?
Reden wir, statt über Kevin, lieber über Lynne Ramsay. Die hat um die Jahrtausendwende mit lyrisch-impressionistischen Kurz- und zwei Langfilmen Festivals reihenweise in den Bann geschlagen: In RATCATCHER fanden Glasgower Schmuddelkinder inmitten eines Müllstreiks Zuflucht in Erice'schen Kornfeldern, im noch tolleren MORVERN CALLAR glitt Samantha Morton zu Lee Hazlewood autistisch durch ein Pop-Art-Museum namens Supermarkt. Fast 10 Jahre hatte man danach von Ramsay kein Sterbenswort gehört und kollektiv "Endlich!" geseufzt, als WE NEED TO TALK ABOUT KEVIN in Cannes Premiere feierte. Auch Ramsay selbst scheint das Warten kaum ausgehalten zu haben: Die erste halbe Stunde des Films bläst wie ein ruckartig geöffnetes Ventil die aufgestauten Kreativenergien einer Dekade über die Leinwand, nahezu wortlose Farb-, Licht- und Soundcollagen aus mal installativ strengen, mal impulsiv hingeschmierten Handlungsschnipseln: Swinton auf Gefängnisfluren, Swinton und Reilly liebestrunken in großstädtischer Neonnacht, Reilly mit ausgewaschenem Led-Zeppelin-Shirt in makellos parkettierten Suburb-Räumlichkeiten, Swinton im selben Shirt in einer winzigen Bruchbude am Ghettorand usw.
Was als reiner Dissoziationsrausch mithin atemberaubend funktioniert, lässt bald überdeutlich die von zwei Enden - vorher, nachher - aufs zentrale Massaker zusteuernde Zeitachse durchscheinen, die hier zu Puzzlezwecken auseinandergerisse ist. Der amerikanische Kritiker Ignatiy Vishnevetsky hat diese Form des andeutungsreich achronologischen Erzählens als "Striptease" beschrieben, als hinhaltendes, häppchenweises Entblättern eines schwarzen Lochs in der Filmmitte, dessen effektmaximierende Präsentation als Schlusspointe unweigerlich etwas Vulgäres an sich hat. Ärger noch liegt der Fall bei KEVIN, dessen fulminant um den heißen Brei herumflashender Auftakt sich im Nachgang ziemlich restlos als kunstfilmisches Vertuschungsmanöver der dahinter waltenden Einfalt erweist. Kevin, der in jungen Jahren aus purer Garstigkeit frisch angelegte Windeln vollscheißt und als Adoleszent, beim Wichsen erwischt, mit teasendem Schulterblick extrahart weiterwichst, ist das reine Satansbratenklischee, daran ist nicht zu rütteln. Ramsay rüttelt trotzdem, fokussiert ihre Geschichte auf die - soviel verrät schon das Stunt-Casting von Allzweck-Alien Tilda Swinton - spröde, verspannte, kinderuntaugliche Mutter, deren Mitschuld am Werdegang des Sprösslings qua Liebesentzug der Film immerzu kolportiert, aber nie plausibilisiert.
So wird, was als derber Horrorstoff womöglich getaugt hätte, mit falschen Ambivalenzen verkünstelt, überformt zum psychopädagogischen Lehrstück bar jeder Vernunft. Dass KEVINs konkurrierende Ambitionen - exploitativer Schocker hier, Traktat über Teenagergewalt da - sich gegenseitig auskreuzen, überrascht nicht; dass die avantgardistisch angehauchte Erzählform diesen Eindruck eher verstärkt als zerstreut, hingegen schon. Ramsays Montage tut nämlich, was sie in den Vorgängerwerken geflissentlich vermieden hat: Sie argumentiert, zieht Schlüsse. Immer wieder werden scheinbar irrlichternde Schnitt- als logisch notwendige Entwicklungsfolgen verkauft, gruppieren sich entfernte Szenen zu allzu passgenauen Memoryspielkarten: Im einen Moment redet Swinton über ihre Fluchtreflexe, im nächsten sitzt sie in einem Zimmer voll greller Touristikposter. Plumpe Matchcut-Ironie, und der Soundtrack erst: "Everyday it's-a gettin' closer", croont Buddy Holly süßlich das bittere Ende herbei, und Washington Phillips besingt leitmotivisch Kevins Missetaten: "You always have been your mother's joy!" Angesichts solch ausgesuchter Pfiffigkeiten kann man nur hoffen, dass Ramsays nächster Film wieder ein Schnellschuss aus dem Unterbewussten wird.
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