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Céline Sciammas jüngster Film TOMBOY mutet teils an wie eine märchenhafte Geschichte. Hier spielen Kinder - afrikanischer, arabischer und europäischer Abstammung - eines Wohnblocks gemeinsam draußen - in der Natur. Keine Videospiele, kein Facebook, ja, nicht einmal ein Mobiltelefon sehen wir. Stattdessen wird Wahrheit oder Pflicht gespielt und Fangen im Wald. Die Hauptfigur, Laure (Zoé Héran) hat eine kleine Schwester, Jeanne, mit der sie liebevoll umgeht, wie ohnehin die Eltern sehr verständnisvoll Laures maskulines Erscheinungsbild akzeptieren. Verständnisvoll ist in TOMBOY sowieso jeder, sei es die erst 6 Jahre alte Jeanne, die mitkriegt, deckt und unterstützt, dass ihre Schwester sich in einer neuen Nachbarschaft als "Michael" ausgibt, oder die anderen Bewohner dieses Vorort-Wohnblocks.
Nahezu alles in Sciammas Geschichte ist abnormal normal. So kommt es, dass das französische Drama eigentlich kein solches ist. Schlichtweg weil die Figuren fast durchweg rational agieren. Einer besonderen Erklärung bedarf es dafür ebenso wenig, wir für Laures Tomboy-Verhalten. Dieses ist bei pubertierenden Mädchen zwar selten, aber nicht ungewöhnlich und bereits seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts werden jungenhafte Mädchen so charakterisiert. Was Laures Erscheinungsbild angeht, bleibt offen, wieso sie sich so gibt. Sciamma lässt Spielräume für Transgender- und Homosexualitätsinterpretationen, wenn sich Laure als Michael beginnt, mit der Nachbarstochter Lisa einzulassen. Ob dies jedoch nur Teil von Laures Mimikry ist, lässt sich nicht sagen, womöglich ist es schlichtweg ein Element ihrer pubertären Selbstfindung.
Denn obschon sie sich eines Kleides erwehrt, lässt sie sich bereitwillig von Lisa in einer anderen Szene "wie ein Mädchen" schminken. Es sind die Szenen, in denen Laure zwischen den Geschlechterbildern steht, die TOMBOY auszeichnen. Zu Beginn bringt ihr Vater der Zehnjährigen Autofahren bei, lässt sie später Bier trinken und als Michael reüssiert sie beim Fußballspielen. Dagegen tanzt sie ausgelassen mit Lisa zu Musik, lässt sich von ihr Make-up auftragen und spielt mit Jeanne. Letztere wird zum Kontrast zu ihrer Schwester typisch mädchenhaft inszeniert, als posierende Ballerina oder naiver Promi in einem fiktiven Badewannen-Interview. Humorvoll wird der Film dann, wenn die Welten von Laure und Michael miteinander kollidieren. So führt eine volle Blase zur Spielplatzflucht und ein Schwimmen am See erfordert einen Penis aus Play Doh.
Für Laure ist der Umzug zu Beginn in eine neue Nachbarschaft die Möglichkeit, ihrer Identität zu fliehen. Dass diese sich nur bedingt über die Sommerferien hinweg aufrecht erhalten lässt, scheint ihr nicht bewusst zu sein. Ganz im Gegensatz zum Publikum. Folglich ist es nur eine Frage der Zeit, ehe Michael auffliegt und das "Drama" doch noch Einzug in die Geschichte findet. Gewalt wird angewendet, es fließen Tränen und eine Konfrontationsszene erinnert in Kinderkompatibler Form an Kimberly Peirces thematisch ähnlichen BOYS DON'T CRY. Dennoch verliert Sciamma selbst hier nie ihren hoffnungsvollen Positivismus, wirkt TOMBOY selbst in seinen authentischen Momenten weiterhin wie ein märchenhafter Traum von der Realität. Ein Referenzwerk für Gender Studies ist der Film daher eher nicht, aber dennoch ein sehr gut gespielter und unterhaltsamer Beitrag zur Geschlechtsidentität.
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