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TÖDLICHE ENTSCHEIDUNG (USA 2007)

von Hasko Baumann

Original Titel. BEFORE THE DEVIL KNOWS YOU'RE DEAD
Laufzeit in Minuten. 117

Regie. SIDNEY LUMET
Drehbuch. KELLY MASTERSON
Musik. CARTER BURWELL
Kamera. RON FORTUNATO
Schnitt. TOM SWARTWOUT
Darsteller. PHILIP SEYMOUR HOFFMAN . ETHAN HAWKE . ALBERT FINNEY . MARISA TOMEI u.a.

Review Datum. 2008-04-01
Kinostart Deutschland. 2008-04-10

Am Anfang steht der Sex. BEFORE THE DEVIL KNOWS YOU'RE DEAD - den nichtssagenden deutschen Titel, der wohl fürs Videothekenregal gedacht ist, ignoriere ich mal - beginnt mit einer Aufnahme von Philip Seymour Hoffman, der Marisa Tomei von hinten nimmt. Daß diese Szene schon im Vorfeld als "kontrovers" oder "diskutabel" ausgerufen wurde, ist ein Armutszeugnis für die gegenwärtige Filmkritik und -rezeption. Und vielleicht auch für das allgemeine Verhältnis zum Sex. Die Szene zeigt zwei Eheleute beim Ficken, und zwar nicht auf irgendeine Weise ästhetisiert oder aber voyeuristisch ins Land des Pornos hochgespult, sondern einfach nur so. Das sieht trotz Hoffmans unansehnlichem Körper gut aus, es sieht nach Sex aus, es sieht sogar erotisch aus. Und wie Hoffman und Tomei danach miteinander umgehen, das sieht nach Liebe und Vertrautheit aus. Es sieht echt aus. Auch das ist die große Kunst der Filmregie. Und hier sitzt ein ganz Großer auf dem Regiestuhl: Sidney Lumet.

Es ist wohl müßig, noch einmal die erstaunlich hohe Zahl fantastischer Filme in Lumets Werk aufzuzählen, aber ich möchte schon noch einmal daran erinnern, daß hinter DIE 12 GESCHWORENEN, SERPICO, NETWORK, HUNDSTAGE , MORD IM ORIENT-EXPRESS, DER PFANDLEIHER und SEIN LEBEN IN MEINER GEWALT derselbe Regisseur steht. Zugegeben, wie bei vielen seiner Kollegen war ein urplötzlicher dramatischer Qualitätsabfall seit den 80ern (genauer: nach 1982 und THE VERDICT) bei Lumet zu beobachten, aber mit BEFORE THE DEVIL KNOWS YOU'RE DEAD spielt er wieder vorne mit. Mit sehr sicherer Hand erzählt Lumet die Geschichte eines mißglückten Juwelenraubs, bei dem zwei sehr ungleiche Brüder (Hoffman und Ethan Hawke) ausgerechnet den Laden ihrer Eltern (Rosemary Harris und Albert Finney) ausrauben wollen. Daß diese Nummer katastrophal schiefgeht, zeigt uns Lumet gleich zu Anfang und rollt dann alles andere wie ein Puzzle auf. Mutig hat sich der Altmeister an ein Drehbuch gewagt, daß der nonlinearen Erzählweise frönt. Die vielen Zeitsprünge im Geschehen löst er durch plötzliche Standbilder und ein klirrendes Crash-Geräusch; das ist sehr einfach, aber hey, it gets the job done. Und darauf kommt es an.

Zu sehr stimmungsvoller Musik vom sträflich vermißten Cater Burwell entfaltet sich eine Tragödie biblischen Ausmaßes: Die Brüder hintergehen einander ebenso wie ihre Erzeuger, und ihr Vater wird vom gemütlichen Halbgreis zum haßzerfressenen Racheengel. Lumet erzählt das alles gottlob mit unterkühlter Nüchternheit; jede weitere Emotionalisierung würde dieses gnadenlose, humorfreie Konstrukt aus Verlust und Niedertracht zur melodramatischen Implosion führen. Unter seiner Regie entstehen stattdessen die intensivsten Szenen, die man derzeit im Kino zu sehen bekommt. Das ist natürlich das, was man Schauspielerkino nennt. Philip Seymour Hoffman, dessen Macken allmählich zu Manierismen werden, muß aufpassen, daß er nicht der Dan Aykroyd des anspruchsvollen Hollywood-Kinos wird. Er weiß noch zu packen, wenn er beiläufig agiert, aber in den "großen Szenen" greift er oft zu schwerhändig in die Tasten. Albert Finney hingegen wirkt in seiner zittrigen Wut schon fast fremd und beängstigend, und Ethan Hawke steht so unter Strom, daß man ihn als ständig daneben greifenden Verlierer fast in den Arm nehmen will. Hawke kann mittlerweile das, was Kevin Bacon gern könnte und Sean Penn nicht mehr kann.

Die größte schauspielerische Leistung dieses in jeder Beziehung reichen Films kommt aber von Marisa Tomei. Man kann sicher sein, daß wieder und wieder zu lesen sein wird, daß sie für ihre 42 Jahre noch toll aussieht. Das ist dummdreister Sexismus und kann nur von geistig Armen mit dem Neid der Gesichtslosen kommen. Tomei sieht fantastisch aus, ja; schön, sexy, aufregend. Es ist aber egal, wie alt sie ist; wichtig ist nur, daß hier nicht irgendein Model von Laufsteg runtergecastet wurde, um einen häßlichen Film aufzuhübschen, sondern eine großartige Schauspielerin eine großartige Leistung bietet. Tomei ist zweimal nackt zu sehen, und nichts daran wirkt aufgesetzt; ihr Spiel ist natürlich, wie selbstverständlich und in jeder Nuance stimmig. Sie hat ihren Oscar damals zu früh bekommen. Jetzt zeigt sie uns, wieso er in ihrem Regal steht. Und daß er zu Recht da steht.

BEFORE THE DEVIL KNOWS YOU'RE DEAD ist kein gewaltiges Comeback einer Regielegende, aber es ist ein Film, der weder modern noch altmodisch genannt werden kann. Er ist einfach gut. Zeitlos gut. Das ist selten genug.











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