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POSSESSOR (USA 2020)

von André Becker

Original Titel. POSSESSOR
Laufzeit in Minuten. 103

Regie. BRANDON CRONENBERG
Drehbuch. BRANDON CRONENBERG
Musik. JIM WILLIAMS
Kamera. KARIM HUSSAIN
Schnitt. MATTHEW HANNAM
Darsteller. ANDREA RISEBOROUGH . CHRISTOPHER ABBOTT . TUPPENCE MIDDLETON . JENNIFER JASON LEIGH u.a.

Review Datum. 2021-07-02
Kinostart Deutschland. 2021-07-01

POSSESSOR beginnt mit einem bestialischen Mord. Eine junge Frau tötet auf einer noblen Abendveranstaltung einen älteren Mann und wird Sekunden später von Sicherheitskräften erschossen. Ein Meer aus Blut, von der Kamera in extremen Nahaufnahmen auf Film gebannt. Brandon Cronenbergs zweiter Spielfilm dürfte bereits in diesen ersten fünf Minuten zartbesaitete Zuschauer an ihre Grenzen bringen. Es ist aber auch schnell klar, dass dieser Film sehr viel mehr bietet als Tod und Gewalt.

Brandon Cronenberg will mit expliziten Bildern zweifellos schocken und verstören, ihm gelingt es aber ebenfalls eine vielschichtige Geschichte zu erzählen, die eine ganz Reihe von Themen aufgreift, die bereits sein Vater David Cronenberg in seinen Filmen auf unverwechselbare Weise verhandelt hat. Die Fußstapfen des Vaters sind natürlich riesengroß, Vergleiche mit den Werken des virtuosen Regisseurs sind daher sicherlich noch die nächsten Jahre vorprogrammiert. Das ist erwartbar, allerdings nicht wirklich fair gegenüber Brandon Cronenberg, denn mit POSSESSOR ist der Regisseur bereits mit seinem zweiten Film auf einem sehr hohen künstlerischen Niveau angelangt.

Es mag eine steile These sein, aber POSSESSOR markiert nicht den Beginn eines spezifischen Reifungsprozesses, sondern schon eher dessen Abschluss. Cronenberg wählt ähnliche Themen wie sein Vater am Anfang und in der Mitte seiner Karriere, sein Themenkosmos wirkt jedoch abgeschlossener. Weniger vorbestimmt in Form und Inhalt. Was noch kommen wird, ist natürlich noch Zukunftsmusik, so oder so macht es einem Cronenbergs auf Festivals frenetisch gefeierter Thriller sehr schwer Vermutungen aufzustellen, welchen Weg der Filmemacher in den nächsten Jahren einschlagen wird.

POSSESSOR ist ein Film mit einer unglaublichen Sogwirkung. So abgedroschen es klingen mag, so zutreffend ist doch diese Umschreibung aus den Untiefen des Filmrezensions-Baukastens. Cronenberg entwirft eine klinisch-kühle Welt, in der technologische Allmachtsphantasien das kapitalistische Gesellschaftssystem unterwandert haben und längt zum bestimmenden Faktor geworden sind. Es geht um Kontrolle. Auf allen erdenklichen Ebenen. Um jeden Preis. Umso schwerwiegender ist der Kontrollverlust, den Cronenberg zum eigentlichen Thema macht. Und hier entfaltet das technisch-medizinische System, das der Film bereits früh als bloße Form eines Arbeitsprozesses darstellt, seine ganze destruktive Wirkung.

In der Welt von POSSESSOR ermöglichen es Hirnimplantate Menschen zu steuern und sie gegen ihren Willen tödliche Aufträge ausführen zu lassen. Alles zum Wohle einer nebulösen Firma, die als progressive New-Work-Einrichtung dargestellt wird. Die Hauptfiguren des Films sind dabei Tasya Vos (Andrea Riseborough), eine wortkarge Mitarbeiterin des Unternehmens, sowie Colin Tate (Christopher Abbott), der Mann in dessen Geist und Körper sie schlüpfen soll. Nach einem fatalen Zwischenfall treten allerdings mehrere gravierende Probleme auf, die zu einer schrittweise vollzogenen Verwischung der Identitäten führen. Mit tödlichen Folgen für alle Beteiligten und ihr Umfeld.

POSSESSOR bleibt stets dem Genre-Film verpflichtet, öffnet dabei jedoch einen großen Assoziationsraum, der ausgesprochen intelligent aufgebaut wird und in dem immer wieder neue Themenkontexte einfließen. Zwart thront über fast jeder Szene das Thema des formbaren Körpers, Cronenbergs zweiter Langfilm widmet sich darüber hinaus aber auch ausführlich zwei Themenkomplexen, die man wohl am besten als Entindividualisierung und Entemotionalisierung beschreiben kann. Cronenberg geht es diesbezüglich aber nicht um psychologisch oder soziologisch verkopfte Erklärungsansätze. Im Zentrum steht die Zustandsbeschreibung, nicht das Warum. Nichtsdestotrotz fungieren seine Figuren als Stellvertreter lebensweltlicher Zustände, wobei die Grenzen zwischen den gesellschaftlichen Teilsystemen von ökonomischen Faktoren überdominiert werden. Für Cronenberg ist die letzte Grenze der Privatheit (der freie Geist) längst komplett aufgelöst. Und hier schlagen die Themen Entindividualisierung und Entemotionalisierung filmisch voll durch. Nur folgerichtig das Cronenberg, die teils sehr expliziten Sex-Szenen als vollkommen entfremdet von Gefühlen und Emotionen aller Art zeigt. Als durch und durch unsinnlichen, mechanischen Akt, hinter dem nichts mehr steht als die bloße Verrichtung. Wenn Colin im Rahmen seiner Arbeit ein kopulierendes Paar begutachtet, bleibt seine Mimik vollkommen teilnahmslos, so wie er auch beim Sex mit seiner Freundin (Tuppence Middleton) wie eine leere Hülle agiert.

Nicht verschwiegen werden sollte, dass POSSESSOR auch aus handwerklicher Sicht hervorragend umgesetzt ist. Cronenbergs Können ist in jeder Szene bemerkbar und bietet den Darstellern ausreichend Raum für eine nuancenreiches Spiel (wie immer grandios: Andrea Riseborough). Daneben zeigt der Regisseur stets das richtige Gespür beim Einsatz stilistischer Mittel. Zeitlupen und Großaufnahmen strukturieren den Film ebenso wie Zerrbilder und schnelle Schnitte. Brandon Cronenberg überstrapaziert diese Stilmittel jedoch nicht und vermeidet so ein Nebeneinander kinematographischer Ausdrucksformen.

Cronenberg ist ein Film gelungen, der seine (hoffentlich vielen) Zuschauer auch nach dem Abspann lange nicht loslässt und der gleichermaßen drastisch und intelligent seinen filmischen Erlebnisraum öffnet. Es ist somit eine ausgesprochen gute Nachricht, dass POSSESSOR nach einem Gastspiel beim Fantasy Film Fest im Jahr 2020 nun einen regulären deutschlandweiten Kinostart erhält - leider aber nur in der etwas entschärften R-Rated-Fassung.











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