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NYMPHOMANIAC VOLUME 1 (LONG VERSION) (Deutschland/Frankreich/Großbritannien 2014)

von Sebastian Moitzheim

Original Titel. NYMPHOMANIAC VOLUME 1 (LONG VERSION)
Laufzeit in Minuten. 145

Regie. LARS VON TRIER
Drehbuch. LARS VON TRIER
Musik. nicht bekannt
Kamera. MANUEL ALBERTO CLARO
Schnitt. MORTEN HØJBJERG . MOLLY MARLENE STENSGAARD
Darsteller. CHARLOTTE GAINSBOURG . STELLAN SKARSGÅRD . STACY MARTIN . SHIA LABEOUF u.a.

Review Datum. 2014-02-13
Kinostart Deutschland. 2014-02-20

Basierend auf der allgegenwärtigen, penetranten (no pun intended) Marketing-Kampagne zu NYMPHOMANIAC erwartete man den provokantesten, explizitesten, Lars-von-Triersten Film, den Lars von Trier je gemacht hat. Und tatsächlich wirkt zumindest NYMPHOMANIAC VOLUME 1 (gesehen in der langen Fassung auf der Berlinale) wie von Triers Greatest Hits-Album: Fans werden hier all das finden, was sie an von Trier mögen, Neueinsteiger finden einen guten Überblick über sein Schaffen - nur neues gibt es nicht wirklich zu entdecken, und genau wie ein Greatest Hits-Album ist auch NYMPHOMANIAC vor allem kalkuliert und berechenbar, ein Film, mit dem von Trier entgegen der PR (und, möglicherweise, der eigenen Einschätzung) nicht schockiert, nicht mehr wagt als je zuvor, sondern auf Nummer sicher geht.

Anders, als man angesichts der Vorab-Informationen - mehr als 4 Stunden Laufzeit, verteilt auf zwei Filme, Hardcore-Sex-Szenen usw. - erwartet hat, ist NYMPHOMANIAC VOLUME 1 von Triers vielleicht zugänglichster Film. Der Ton ist für den Dänen ungewohnt leicht, ja stellenweise unbeschwert. Es gibt eine Menge zu lachen. Und dem bisher oft schonungslosen Blick, den von Trier auf seine psychisch labilen Frauenfiguren warf, dem Suhlen in der Depression der Figuren (und seiner eigenen) setzt von Trier einen - von Ausnahmen abgesehen, aber dazu gleich mehr - ironisch-distanzierten Blick entgegen, er intellektualisiert und psychologisiert das Leid seiner Figuren mehr bzw. expliziter als zuvor und nimmt diesem so ganz bewusst die emotionale Direktheit.

Dieser Effekt entsteht zu einem großen Teil durch die Rahmenhandlung des Films, in der die Protagonistin Joe (Charlotte Gainsbourg) dem intellektuellen, anscheinend asexuellen Seligman (Stellan Skarsgård), der sie verletzt und geschwächt von der Straße auflas, von ihrem Leben als Nymphomanin erzählt - oder besser: beichtet. Denn Joe ist überzeugt, dass sie ein schlechter, moralisch verkommener Mensch ist und von Trier lässt Seligman Joe von ihren Sünden freisprechen. Warum es einen alten, asexuellen Mann braucht, der irgendwie auch Stand-In für den Regisseur ist (inklusive Anspielung auf/Rechtfertigung für von Triers "I am a Naz"-Kommentar in Cannes), Joe die moralische Absolution zu urteilen, was ihn dazu qualifiziert/berechtigt, sei einmal dahingestellt.

Joe erzählt ihre Geschichte in insgesamt acht Kapiteln, von denen die ersten fünf NYMPHOMANIAC VOLUME 1 bilden. Sie zeigen Joe kurz als Kind, dann als Jugendliche und junge Erwachsene (dann gespielt von Newcomerin und Ex-Model Stacy Martin, während Gainsbourg in diesem ersten Teil nur in der Rahmenhandlung zu sehen ist). Die erste sexuelle Erregung, der erste Sex (mit dem unerträglichen und von Shia LaBeouf mit frei erfundenem Akzent gespielten Jérôme), die erste - und vielleicht einzige - Liebe (ebenfalls zu Jérôme, warum auch immer), Erfahrungen mit zahlreichen Liebhabern und der Tod des Vaters (Christian Slater) sind Plot-Points von NYMPHOMANIAC VOLUME 1. Dazu immer wieder Unterbrechungen durch Skarsgårds Zeligman, die Joes Erzählung gelegentlich thematisch einordnen und vertiefen, meist allerdings Joes sexuelle Entwicklung in einer etwas überstrapazierten Analogie mit dem von Zeligman betriebenen Fliegenfischen vergleicht.

Die unterhaltsamsten Szenen des Films ereignen sich zwischen Joe und Seligman, doch nur gelegentlich sind ihre Gespräche auch inhaltlich interessant: Warum Joe nur den schlimmsten Aspekt der Religion, die Schuld, behalten hat, fragt Seligman sie recht am Anfang des Films, was durchaus als Basis für eine Dekonstruktion von Joes Selbsthass taugen würde (leider lässt von Trier dieses Thema schnell fallen und verfällt in die bereits angedeutete Geschlechterdynamik, mit dem rationalen Seligman als moralischer Richter und Lehrer der triebhaft-gestörten, ungebildeten Joe).

Öfter allerdings, als sie echten thematischen Mehrwert bieten, wirken Seligmans Lektionen aufgepropft, wie um der Geschichte des Films einen thematischen Überbau zu geben, die sie entweder nicht hergibt oder die von Trier seinem Publikum nicht zutraut, zu erkennen.

Am Besten ist NYMPHOMANIAC VOLUME 1 dann tatsächlich auch in dem Kapitel, in dem das umrahmende Gespräch und Joes Erzählung am engsten miteinander verzahnt sind, wenn Joe an drei Beispielen die unterschiedlichen Arten von Befriedigung, die sie von ihren verschiedenen Liebhabern erfährt, erläutert und Seligman dies mit dem Zusammenspiel der verschiedenen Stimmen eines Bach-Orgelwerkes vergleicht. Am Schwächsten dagegen ist der Film im schwarz-weiß gehaltenen, berechenbar depressiven Kapitel über das langsame Sterben von Joes Vater im Krankenhaus, das mit Joes Geständnis endet, dass Joe nach dem Tod des Vaters sexuell erregt war, was die sprechende Wikipedia Seligman zur Beruhigung Joes und des Zuschauers sogleich als ganz normal entschärfen muss.

Es gibt interessante Ansätze in NYMPHOMANIAC VOLUME 1 und der Film ist, gerade angesichts der Überlänge, überraschend unterhaltsam (und überraschend zahm -dass bisher so wenig über die tatsächlichen Sexszenen geredet wurde, liegt an der durchaus angenehmen, so gar nicht auf Schock zielenden matter-of-fact Inszenierung des Films). Der Eindruck, dass es sich hier aber in erster Linie um ein Vorspiel (pun intended) zum zweiten Film handelt, dass die wirkliche Beschäftigung mit den hier nur angeschnittenen Themen erst im nächsten Teil stattfinden wird, lässt sicher aber nie ganz abschütteln. Eventuell kommt es also noch, das gewagte magnum opus von Triers, das sich so mancher von NYMPHOMANIAC erhoffte. Und vielleicht erscheint dann, wenn man beide Teile (eigentlich ja zwei Hälften desselben Films) kennt, auch dieses oft unterhaltsame, aber eben durchwachsene und letztlich etwas belanglose Werk in einem anderen Licht.











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