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MOON (Großbritannien 2009)

von Björn Lahrmann

Original Titel. MOON
Laufzeit in Minuten. 97

Regie. DUNCAN JONES
Drehbuch. NATHAN PARKER . DUNCAN JONES
Musik. CLINT MANSELL
Kamera. GARY SHAW
Schnitt. NICOLAS GASTER
Darsteller. SAM ROCKWELL . SAM ROCKWELL . KEVIN SPACEY . DOMINIQUE MCELLIGOT u.a.

Review Datum. 2009-09-03
Kinostart Deutschland. 2010-07-15

Überall auf der kleinen Mondbasis lauern sie, hinter Türen, zwischen Decks, manchmal sogar mitten im Raum: schienbeinhohe Schwellen. A small step for a man, mag sein, aber wenn man ihn so oft gegangen ist wie Sam Bell (Sam Rockwell), fühlt er sich jedes Mal mehr an wie ein giant leap. "Mind step" lautet die Warnung auf den allgegenwärtigen Stolperkanten, was sich mit ein wenig sprachlicher Kreativität auch als "Verstandesschwelle" übersetzen lässt – und die hat Sam lange schon überschritten. Seit drei Jahren sitzt er hier oben fest, der einzige Astronaut auf dem gesamten gottverlassenen Erdtrabanten, der seit der Entdeckung von photovoltaischem Gestein seinen Mutterplaneten mit Energie versorgt. Doch die Erntemaschinen verrichten ihre Arbeit fast vollautomatisch, und weil auch der Direktkontakt zur Bodenstation abgerissen ist, hat Sam wenig mehr zu tun, als gelegentlich mit dem Wartungsroboter GERTY (stimmlich anwesend: Kevin Spacey) zu plaudern und sehnsüchtig die nächste Videobotschaft seiner Frau zu erwarten. Einmal schickt sie ihm ein aufgezeichnetes Footballspiel ins All. "That was almost live", wird er in die Kamera zurückmurmeln und sich dabei den verfilzten Bart streichen.

Auch Sam ist nicht ganz "live": er rennt seinem eigenen Leben hinterher und macht partout keinen Boden gut. Die erste Einstellung zeigt ihn auf einem Laufband, in der Dauerschleife, die seine ganze Existenz ist. Zwar läuft sein Vertrag in ein paar Wochen aus, doch hat man nicht das Gefühl, dieser Moment könne tatsächlich jemals heranrücken. Die Isolation hat aus ihm einen wunderlichen Bastelkeller-Eremiten gemacht, der in endloser Seelenruhe an einer Holzminiatur seiner Heimatstadt schnitzt. Wie ein Kind lässt er sich von GERTY bemuttern, der von Kochen bis Haareschneiden alles für ihn erledigt. Rührend unzeitgemäß wirkt seine Umgebung, im Mondbuggy baumeln rote Plüschwürfel von der Decke, im Fernsehen läuft Mary Tyler Moore, und als allmorgendlicher Weckruf plärrt Chesney Hawkes aus dem Radio, "I am the One and Only", was bald einen ironischen Beiklang bekommen wird: denn so allein, wie er immer dachte, ist Sam gar nicht. Als er nach einem Unfall aus der Bewusstlosigkeit erwacht, sieht er sich überrascht einem neuen Mitbewohner gegenüber: sich selbst.

Der Mond als globale Metapher menschlichen Strebens fällt im diesjährigen Sundance-Liebling MOON ganz auf das kleine, hilflose, vereinsamte Individuum zurück. Die unwirtliche Kraterlandschaft wird zur Seelentheaterbühne, auf der Sam Rockwell gleich doppelt die Rolle seiner bisherigen Karriere spielen darf. Sam 1 ist ein buchstäblicher lunatic, ein mondsüchtiger Melancholiker, der sich nichts so sehr wünscht wie die Rückkehr in eine Heimat, die er längst verloren hat. Zu zeigen, wie Sam diesen Verlust zugleich schmerzhaft realisiert und erfolgreich im Infantilen verdrängt: dazu benötigt Rockwell gerade mal das selbstvergessene Zucken eines Augenlids. Sam 2 stellt dem eine souverän unterkühlte Helden-Persona entgegen, stets adrett und frisch rasiert, in Pilotenmontur und Sonnenbrille – ein Sammelbildchen aus TOP GUN-Zeiten.
Doch diese so simpel scheinende Dichotomie hat nichts zu tun mit multiplikatorischem Affentheater der Sorte "Eddie Murphy spielt fünf dicke Omas", sondern resultiert figurenpsychologisch aus einem beidseitigen Bedürfnis nach individueller Abgrenzung, das aufzuweichen beginnt, als den Doppelgängern ihre symbiotische Abhängigkeit zu Bewusstsein kommt. Von wechselseitigen Projektionsflächen werden sie zu Spiegeln, von Kontrahenten zu Brüdern. Dabei ist der Film klug genug, die wahre Natur des zweiten Sam – Wahnvorstellung? Klon? Double? Alien? – nicht als zentrales Rätsel in den Vordergrund zu drängen, sondern selbiges relativ schnell aufzulösen und sich mit den tieferen Implikationen zu beschäftigen. Wie Rockwell hier nicht gegen, sondern tatsächlich mit sich selbst interagiert, seine Figuren einander skeptisch umschleichen, vorsichtig anschmiegen und eine emotionale Bindung formen lässt, ist niemals plump, sondern auf stille Weise ergreifend – und tricktechnisch gerade deswegen so bemerkenswert gelöst, weil man den Trick schlichtweg nicht bemerkt.

Überhaupt ist MOON ein Wunderwerk raffinierter Budgetnutzung. Gedreht für ein Taschengeld von gerade mal fünf Millionen Dollar, erzeugt die altmodische Mischung aus sorgsam gefertigten Sets, Miniaturmodellen und sparsamen CGI-Obertönen eine nahezu perfekte Illusion. Besonders beeindruckend ist das Zusammenspiel von grellem Sonnenlicht und der gesättigten Schwärze der Mondatmosphäre, die wie Milch und Öl in einem porösen Chiaroscuro aufeinanderprallen. Die Schwermut, die sich aus dem Kontrast dieser farbdrainierten Ödnis mit dem blauen Sehnsuchtsplaneten am Horizont speist, legt sich als Grundstimmung über den gesamten Film, fein akzentuiert von Clint Mansells kargen Pianoakkorden und leicht entschärft durch Tupfer verqueren Humors. In Zeiten von prügelnden Robotern und hysterischen Endzeitszenarien ist MOON ein heilsamer Anachronismus: Ein existenzialistisches Sci-Fi-Drama ohne Überwältigungstaktiken, das sein atemberaubendes Setting wie selbstverständlich als Podium für Kernfragen menschlicher Identität nutzt.

Dass es sich bei MOON um ein Regiedebüt handelt, mag man kaum glauben, so ausgeprägt ist Duncan Jones' Genreverständnis, so phänomenal sicher sein Spiel mit Versatzteilen sonder Zahl, die am Ende dennoch ein festgefügtes Gewebe ergeben. Von SILENT RUNNING kommt er zu Tarkowski, von Philip K. Dick zu 2001, stets darauf bedacht, die vom jeweiligen Zitat geweckten Erwartungen tunlichst zu unterlaufen. GERTY z.B. mag dank Kevin Spaceys beschwichtigender Therapeutenstimme wie ein Wiedergänger von HAL 9000 erscheinen – doch an Stelle des bedrohlichen roten Auges hat er ein freundliches Smiley-Display, und seine Motive erweisen sich als primär gutherzig. Indem Jones so die schroffen Kanten seiner Vorbilder zu Nutz und Frommen seiner humanistischen Grundhaltung glättet, mündet sein postmodernes Jongleurstück geradewegs im Klassizismus. Man mag ihm diese Tendenz zur Begradigung, zur Kuscheligkeit als gefällig vorwerfen: das hieße aber auch leugnen, dass MOON seit langer Zeit der erste Science-Fiction-Film ist, der einem das Herz nicht bloß schwer, sondern schwerelos zu machen vermag.











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