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MESSER IM HERZ (Frankreich 2018)

von André Becker

Original Titel. UN COUTEAU DANS LE COEUR
Laufzeit in Minuten. 102

Regie. YANN GONZALEZ
Drehbuch. YANN GONZALEZ . CHRISTIANO MANGIONE
Musik. M83
Kamera. SIMON BEAUFILS
Schnitt. RAPHAEL LEFEVRE
Darsteller. VANESSA PARADIS . NICOLAS MAURY . KATE MORAN . JONATHAN GENET u.a.

Review Datum. 2019-07-18
Kinostart Deutschland. 2019-07-18

Ein Underground-Club irgendwo in Paris. Verschwitzte Körper bevölkern die enge Tanzfläche. Sex liegt in der Luft. Zwei Männer verlassen in der Erwartung einer gemeinsamen Nacht den Club. Kurze Zeit später wird einer der beiden brutal ermordet in seinem eigenen Blut liegen. Ans Bett gefesselt und mit einer phallischen Mordwaffe niedergestochen. Beobachtet von einem Vogel. Ein stummer Zeuge an einem jenseitigen Ort.

MESSER IM HERZ von Yann Gonzalez (BEGEGNUNGEN NACH MITTERNACHT) vermittelt dem Publikum bereits in den ersten Einstellungen sehr deutlich seinen Referenzrahmen. Das italienische Genre-Kino, genauer gesagt der Giallo-Thriller der frühen siebziger Jahre, dominiert Bild und Sound, Atmosphäre und Tonart. Im Zentrum ein maskierter Serienkiller, der die Darsteller eines Low-Budget-Filmstudios schrittweise niedermeuchelt und eine von Liebeskummer geplagte Filmproduzentin. Ein Schlitzerstreifen, angesiedelt im queeren Pornomilieu im enthemmten Post-Hippie-Zeitalter. In der Hauptrolle die wasserstoffblonde Pop-Sängerin Vanessa Paradis.

Gonzalez wählt für seinen zweiten Langfilm nicht den Weg der Hommage, sondern betont stattdessen die Meta-Ebene. UN COUTEAU DANS LE COEUR (der Original-Titel klingt einfach viel schöner) legt insofern mehr Wert auf den Genre-Diskurs als auf das undifferenzierte Fetischisieren der genrespezifischen Schlüsselelemente. Dies unterscheidet das Werk dann auch stark von den Filmen von z.B. Luciano und Nicolás Onetti (FRANCESCA von 2015, zuletzt ABRAKADABRA aus dem Jahr 2018), die sich ebenfalls, jedoch stark aus der Fanperspektive, den Eigenarten des Giallo widmen. All diejenigen, die mit den Motiven und Stilismen des Genres vertraut sind, werden nichtsdestotrotz sehr viele Charakteristika des Giallo finden, die vom Regisseur ohne Umformung oder Brechung eingebaut wurden. Blitzende Klingen, Tiere als stille Beobachter, ein altes Geheimnis, das die Bewohner eines abgelegenen Ortes wohlwissend hüten, traumatisierende Erfahrungen als verwischte Erinnerungsfetzen, unfähige Polizeibeamte und die daraus resultierende Notwendigkeit die Aufklärung der Verbrechen in die eigenen Hände zu nehmen etc.

Ganz der Tradition des Genres folgend übersexualisiert Gonzalez das gesamte Geschehen. Durch die (fast) ausschließliche Darstellung männlicher Homosexualität, die zudem stark positiv konnotiert inszeniert ist, erfolgt jedoch ein klarer Bruch mit dem mehr oder minder festgeschriebenen Genre-Regelwerk, das speziell eine heteronormative Stoßrichtung vorsieht. Gonzalez entscheidet sich zudem für einen spielerischen und nur selten exploitativen Zugang in der Verquickung von Sex und Gewalt. Die vorhandenen Klischeebilder der LGBTQ-Szene sind dabei stets als solche erkennbar und werden durch die teils komödiantischen Zuspitzungen konsequent entzaubert. MESSER IM HERZ ist daher auch als Kommentar (und Gegenentwurf) zu den homophoben Tendenzen im Genre angelegt, die insbesondere zur Hochphase der Giallo-Welle mannigfaltig vorhanden waren.

Ferner behandelt Gonzalez auf geschickte Weise das Leitmotiv des Voyeurismus. Hierbei ist der Zuschauer nicht bloß Zeuge der teils durch die Augen des Killers sieht, sondern der Regisseur holt weiter aus und kontextualisiert die Thematik mit einem Rückgriff auf das Kino selbst. Dies einerseits durch die Wahl der Gayporn-Produktionsstätten als Setting (was letztlich nur eine extreme Weiterführung der im Genre schon immer expressiven Spielorte ist, man denke an den Modesalon im Giallo-Classic BLUTIGE SEIDE von Mario Bava). Anderseits lässt Gonzalez sein Finale in einem Sex-Kino stattfinden. Ein Ort an dem sich das Thema Voyeurismus gleich mehrfach spiegelt (der Leinwandsex erhält eine lebhafte Resonanz im Publikum) und der im Film gleichermaßen Verheißung, Gefahr und Erlösung bedeutet.

Als Hauptdarstellerin zeigt eine sichtlich gealterte Vanessa Paradis eine erinnerungswürdige Performance als herrische Porno-Produzentin, deren fragiles Selbst zusehends von Liebeskummer zerfressen wird. Neben der Hinwendung zum Genre erzählt der Film daher ebenfalls von einer zerbrochenen Liebe, die von Gonzalez stets als emotionaler Ausnahmezustand beschrieben wird. Ein Zustand aus dem es kein Entrinnen gibt. Der Blick auf diese Plot-Ebene ist dabei erstaunlich zärtlich geraten. MESSER IM HERZ umweht deshalb als stille Liebeserzählung auch immer eine melancholische Grundstimmung, die sich als Kontrast zu den blutigen Morden und den bizarren Gegebenheiten bei den Film-Drehs meist gut in den Filmverlauf einfügt. Der kongeniale Soundtrack der Dreampop-Band M83 unterstützt diese Stimmung mit hypnotischen Klangflächen passend und lässt den Film trotz der storyseitigen Verankerung in den siebziger Jahren sehr gegenwärtig wirken.

MESSER IM HERZ ist eine Entdeckung, die sowohl als harsches Midnight-Movie als auch als präzise durchdachte Genre-Reflexion funktioniert. Ein frivoler Neo-Giallo mit Vision, der vor allem im Vergleich mit den unzähligen unbedarften und einfältigen Epigonen der letzten Jahre deutlich hervorsticht und der in der, nunmehr über vierzigjährigen Historie des Giallo-Films, definitiv eine Sonderstellung einnimmt.











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