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DIE LIEBESFÄLSCHER (Frankreich/Italien/Belgien 2010)

von Björn Lahrmann

Original Titel. COPIE CONFORME
Laufzeit in Minuten. 106

Regie. ABBAS KIAROSTAMI
Drehbuch. ABBAS KIAROSTAMI
Musik. nicht bekannt
Kamera. LUCA BIGAZZI
Schnitt. BAHMAN KIAROSTAMI
Darsteller. JULIETTE BINOCHE . WILLIAM SHIMELL . JEAN-CLAUDE CARRIÈRE . AGATHE NATANSON u.a.

Review Datum. 2011-09-19
Kinostart Deutschland. 2011-10-13

Über Henry James' stilbildende Horrorerzählung "The Turn of the Screw" kursierten lange Zeit zwei gegenläufige Theorien: Die Geister sind real, oder sie sind es nicht. In ähnlichem Widerstreit befinden sich, seit Abbas Kiarostamis COPIE CONFORME in Cannes 2010 uraufgeführt wurde, Filmkritiker in aller Welt. Zankapfel ist die Frage, ob Juliette Binoche und William Shimell, die hier einen Nachmittag lang durchs dunkelgelbe Sommerlicht der Toskana flanieren, verheiratet sind oder sich nie zuvor gesehen haben. Im Grunde ist schon das Aufwerfen dieser Frage ein nicht unbeträchtlicher Spoiler, ohne den sich allerdings über den Film, der immerhin der beste des laufenden Kinojahres ist, kaum reden lässt.

Shimell, britischer Opernbariton in seiner ersten Sprechrolle (und was für eine!), spielt James Miller, Star-Akademiker mit neuem Buch im Gepäck, das er zu Beginn in einem kleinen mittelitalienischen Kulturzentrum vorstellt. Im Publikum steht erst unschlüssig, sitzt dann die Binoche mit Sohn und stört. Sechs Kopien des Buchs, das um das Thema kreist, ob Kopien ihren Originalen gleichwertig oder gar überlegen sein können, ersteht sie; "du willst dich wohl an den Autor ranmachen", flachst halberwachsen das Kind. Tatsächlich verschlägt es James stante pede in den kühlen Antiquitätenkeller der namenlosen Frau, wo hinreißend ungerüht zwischen Kopien und Originalen eine Katze auf der Steintreppe döst. Sein Flug geht um sechs, es bleibt Zeit für einen spontanen Ausflug ins Umland, durch Alleen und Gässchen, im Auto, zu Fuß.

Der Rest ist, schnöde gesagt, Reden. Mit Verve packt Kiarostami, zuletzt eher dem Nicht-Narrativen zugeneigter iranischer Exilmeister, die Lust am Dialog als zwischenmenschlichem Eierlauf. Merkwürdige Gereiztheiten schleichen sich ein: Er erzählt einen Witz, sie versaut ihm die Pointe. Sie erzählt von ihrem stotternden Schwager, er schreibt das ihrer Schwester ins Buch, sie daraufhin: stinksauer. Geht so Small Talk unter Fremden? In immer steilere, spannendere Schieflagen gerät das Gespräch, bis es und mit ihm der Film in einem schattigen Café dann restlos umkippt: Die Matrone hält Binoche und Shimell für ein Paar, spielerisch vermeiden sie es, den Irrtum zu korrigieren, und als sie aus der Tür treten, brechen tatsächlich Enttäuschungen und Ressentiments einer langjährigen Ehe aus ihnen heraus.

Mit grober Hand sucht der deutsche Titel diesen Riss im Erzählgewebe zu vernähen; DIE LIEBESFÄLSCHER heißt das jetzt, schön ramschig und x-beliebig. Zweierlei wird damit behauptet: Erstens sei die Liebe, an der sich Binoche und Shimell auf bitterste Weise wundreiben, bloß ein Spiel, eine Lüge; und zweitens sei die Lüge der Wahrheit, die Kopie ihrem Original unterlegen. Gerade darum, diese Parteinahme zu vermeiden, geht es jedoch dem Film. Äußerst geschickt sät er für beide Auslegungen - Ehe wie Nicht-Ehe - unumstößliche Beweise und ist dabei doch in jedem einzelnen Moment von einer emotionalen Wahrhaftigkeit, der Vereindeutigungen nur unnötig Gewalt antäten. Die palimpsestische Überlagerung widersprüchlicher und zugleich untrennbarer Schichten setzt Kiarostami mit Raffinesse ins Bild, indem er seine schlichten, eleganten Einstellungen von Reflexionen und Transparenzen heimsuchen lässt. Beim Autofahren etwa, wo die Gesichter der Darsteller von den Spiegelungen in der Windschutzscheibe überflutet werden, gleitet der Blickfokus ebenso unkontrolliert hin und her wie die polyglott-polymorphe Konversation zwischen Tonlagen und Sprachen.

Jenseits formaler Virtuosität ist COPIE CONFORME aber vor allem eine ungemein nahegehende Auseinandersetzung mit der Frage, wie menschliches Zusammenleben überhaupt möglich ist. Wenn ich das Original bin und alle anderen bloß Kopien, wie kommt es dann, dass sie sich für gleichwertig halten? Immer wieder kehren Binoche und Shimell zum Thema Empathie und Identifikation - mit anderen Menschen, Ideen, Kunstwerken - zurück und laden per gelegentlichem Blick durch die vierte Wand auch selbst zum Identifizieren ein. Im Spannungsfeld zwischen hedonistischer Abgrenzung zum und liebevoller Aufopferung für das Gegenüber vibriert dieser kühne, fesselnde, quicklebendige Film, der ironischerweise ja selber eine Art "Kopie" ist, ein Rückgriff auf die großen europäischen auteurs der klassischen Moderne: eine taghelle Kontrafaktur von Antonionis LA NOTTE, oder ein via Rossellini geerdeter Resnais. Es wäre wohl ganz im Sinne James Millers, zu verkünden: Kiarostami ist seinen Originalen durch und durch ebenbürtig.











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