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LEVIATHAN (Russland 2014)

von David Leuenberger

Original Titel. LEVIAFAN
Laufzeit in Minuten. 143

Regie. ANDREY ZVYAGINTSEV
Drehbuch. OLEG NEGIN . ANDREY ZVYAGINTSEV
Musik. PHILIP GLASS
Kamera. MIKHAIL KRICHMAN
Schnitt. ANNA MASS
Darsteller. ALEXEY SEREBRYAKOV . ELENA LYADOVA . VLADIMIR VDOVICHENKOV . ROMAN MADYANOV u.a.

Review Datum. 2015-03-10
Kinostart Deutschland. 2015-03-12

LEVIATHAN ist ein Film, der im zwölften Monat bedeutungsschwanger ist, sich dabei aber trotzdem als unfruchtbar erweist.
In einem ruhigen, manchmal fast meditativen Ton erzählt der Film von den Leiden des Kolya, der in einem russischen Provinzstädtchen mit seinem Sohn Roma aus erster Ehe und seiner neuen Frau Lilya ein eigenes trautes Heim bewohnt. Doch nicht mehr für lange: Vadim, der mächtige und korrupte Bürgermeister der Stadt, lässt den Automechaniker enteignen, um an das Grundstück heranzukommen. Zusammen mit Dmitri, einem Freund und erfolgreichen Moskauer Anwalt, will sich Kolya gegen diese Enteignung verteidigen. Dabei entfremdet er sich zunehmend von Frau und Sohn und bekommt die Skrupellosigkeit des Bürgermeisters und seiner Bande immer drastischer zu spüren.

Weniger ein Kampf Davids gegen Goliath als vielmehr eine Variation der Hiobsgeschichte präsentiert der gebürtige Sibirier Andrey Zvyagintsev in seinem vierten abendfüllenden Film. Dieser sorgt in seinem Produktionsland für Kontroversen: Parlamentarier, orthodoxe Extremisten und Boulevardmedien verurteilen den Film und fordern gar ein Verbot. Gleichwohl verteidigten auch größere russische ZeitungenLEVIATHAN, der im Januar auch vier "Goldene Adler" (das Oscar-Pendant der russischen Filmindustrie) für Regie, Hauptdarstellerin, Nebendarsteller und Schnitt gewann. Im Ausland dominierten die positiven Reaktionen. Die starken Symbole, die biblische Erzählung und die kritische Sicht auf den russischen Lebensalltag in der Putin-Ära werden begeistert gelobt.

Das alles ist nicht wirklich falsch. Doch dabei wird oft übersehen, dass LEVIATHAN mit biblischen Erzählungen und alttestamentarischen Märchen nicht nur die Dramatik teilt, sondern auch die Eindeutigkeit und die schlichte Einteilung der Welt in Gut und Böse. Etwa zwanzig bis dreißig Minuten sind nötig, um den Grundkonflikt "kleiner Bürger vs. mächtiger Staat" zu etablieren. Die restlichen zwei Stunden dienen nur noch dazu, ihn auszuformulieren - in aller Breite und in einer Ambition des Epischen, die zwar die Bedeutungsschwangerschaft des Films nährt, jedoch keinen echten Bedeutungsmehrwert bringt.

Von Beginn an macht es sich Zvyagintsev in einer Weltsicht bequem, die nur "die da oben" und "wir da unten" kennt und verlässt an keiner Stelle diesen Standpunkt. Da ist auf der einen Seite der herzensgute Kolya. Nicht nur wird er von der Staatsmacht bedrängt, seine Neigung zu aufbrausender Impulsivität treibt ihn immer weiter in den Schlamassel hinein und aus den Armen von Familie und Freunden weg: der kernige russische Mann als Märtyrer. Der gebildete, "westliche" Dmitri, der auch im "wilden Osten" ständig und vergeblich auf das Recht pocht, ist die ideale Ergänzung: der liberale "Intelligent" und der urrussische Arbeiter - einträchtig vereint in der Unterdrückung. Ihnen gegenüber steht der absolut korrupte, durch und durch böse, gemeine, skrupellose und unangenehm schmierige Bürgermeister Vadim: in seiner schieren Bösartigkeit könnte er ebenso gut einen Bösewicht in einem Hollywood-Blockbuster spielen. Den Darsteller Roman Madyanov beim Schmierigsein zuzuschauen, gehört allerdings tatsächlich zu den Highlights des Films. Doch staatliche Repression und Willkür auf die Katerlaunen eines widerlichen Kotzbrockens zu reduzieren macht LEVIATHAN im Kern auch zu einem unpolitischen Film. Daran ändern auch die vielen, wenig subtil eingefügten Symbole von Korruption und Verfall (von den plump in einen Kübel fallenden Fische in einer Fischfabrik über Walskelette und Schiffswracks am Strand bis hin zu den Portraits ehemaliger russischer Führer, die als Zielscheiben beim Schießausflug genutzt werden): sie sind keine intellektuelle oder sinnliche Anregungen, die eventuell gar für Irritationen sorgen könnten, sondern nur eine Bestätigung und Doppelung dessen, was bereits gesagt wurde.

Auch die Titelgebung des Films lehnt sich an die einfachste, gängigste und bequemste Deutung von Thomas Hobbes‘ "Leviathan" an (allmächtiger Staat unterdrückt hilfloser Bürger). In epd film war von einer "sorgfältigen und detailreichen Schilderung totalitärer Verhältnisse" die Rede. Das ist im Prinzip richtig, aber ob die hoffnungslos überholte Totalitarismustheorie wirklich das richtige Instrument ist, um über das heutige Russland nachzudenken, sei dahingestellt. Sie kann mit Ambivalenzen nämlich nichts anfangen.

Ganz so geschlossen ist LEVIATHAN nicht. Die einzigen Ambivalenzen, die er zulässt, nämlich bei der Charakterisierung der weiblichen Figuren, hinterlassen allerdings einen schalen Nachgeschmack. Der verlängerte Arm von Vadims böser Macht ist weiblich: unvergesslich ist die eiskalte Richterinnen-Troika, deren Vorsitzende zu Beginn des Films in emotionsloser Diktion den Urteilstext über die Enteignung Kolyas herunterrasselt. Die Ehefrauen der kleinen Leute hingegen sind in diesem Film entweder Jammerlappen oder Ehebrecherinnen, die den Sorgen ihrer Männer nichts entgegenzusetzen wissen. Lilya, Kolyas Frau, erscheint in der Exposition noch als so etwas wie die Stimme der Vernunft, wird aber schlussendlich zum Hindernis für das Märtyrium ihres Mannes. Es erscheint nur zwingend, dass sie verschwinden muss, damit Kolya als Hiob-Wiedergänger ein bisschen mehr leiden darf. Seit DAS LEBEN DER ANDEREN hat sich wohl kein Film so derartig kaltschnäuzig einer Frauenfigur entledigt, die er vorher zum "funktionalen" Plot-Element degradiert hat. Dem Umgang mit weiblichen Charakteren entspricht auch die männerbündische Wodka-Romantik, die der Film allzu naiv zelebriert.

Russisches Kino sieht man ja nun leider viel zu selten in Westeuropa. Und wenn es mal zu sehen ist, dann meist nur der Teil, der eine gewisse Rezeptionshaltung bestätigt. Etwa, dass politisch "unbequeme" Filme per se gelobt werden, was sie als künstlerische Werke degradiert und zu ideologischen Dienstleistern vulgarisiert. "Ja ja, ist schon nicht schön, was gerade in Russland passiert... nimmst du noch so einen italienischen Bio-Rotwein, Schatz?" Kommentare wie diese werden nach Ende des Films in den Foyers hiesiger Programmkinos bestimmt zu Dutzenden zu hören sein. Wahrscheinlich gefolgt von einer Bemerkung à la: "Ach diese schwermütigen Russen: die machen immer so fatalistische und trübsinnige Filme!". Quatsch! Von den explosiven Crimethrillern Alexey Balabanovs über die Mysteryfilme Kirill Serebrennikovs bis hin zum magischen Realismus Aleksey Fedorchenkos: Das postsowjetische russische Kino hatte und hat viel spannendes, herausforderndes, irrsinniges, wunderbares und anregendes zu bieten. Nur gehört eben LEVIATHAN nicht zu diesen Kategorien.











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