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JULIA (Frankreich/Mexiko/USA 2008)

von Claudia Siefen

Original Titel. JULIA
Laufzeit in Minuten. 138

Regie. ERICK ZONCA . CAMILLE NATTA
Drehbuch. ERIC ZONCA . AUDE PY . CAMILLE NATTA . MICHAEL COLLINS
Musik. -
Kamera. YORICK LE SAUX
Schnitt. BASILE BELKHIRI
Darsteller. TILDA SWINTON . SAUL RUBINEK . KATE DEL CASTILLO . AIDAN GOULD u.a.

Review Datum. 2008-06-02
Kinostart Deutschland. 2008-06-19

Es ist Freitagabend: Wochenende. Auch die Mitarbeiter eines Immobilienbüros freuen sich darauf, ordentlich die Sau heraus zu lassen. Man trinkt und tanzt, ein wildes Rudel von Anfang- und Mittvierzigern betrinkt sich mit Cocktails und kommt sich näher. Wer wessen Boss ist, das ist in diesem Moment egal. Mitten drin eine Frau im grünen Paillettenkleid, endlos schönen Beinen und rotem gelockten Haarschopf, die sich gierig die kleinsten mit Wodka voll gesogenen Oliven aus ihren zu schnell geleerten Gläsern in den Mund stopft. Julia ist Alkoholikerin und spult routiniert ihr tägliches Pensum ab: trinken und einen Herren abschleppen, um am nächsten Morgen irgendwo aufzuwachen, im grellen Sonnenlicht auf ihr Auto zuzustaksen und daheim angekommen erst einmal das Badewasser in eine von Zigarettenbrandlöchern markierte Wanne einzulassen.

Julia ist das so gewohnt, ihr Chef will sich nicht daran gewöhnen und sie verliert ihren Job. In all ihrer "Ihr-könnt-mich-mal"-Haltung rettet sie ihre noch nicht ganz weg gesoffene Intelligenz und Schlagfertigkeit normalerweise aus den üblichen Problemen heraus. Diesmal wird es anders sein.

Die schottische Schauspielerin Tilda Swinton gibt hier Julia, und sie schafft es tatsächlich, einem ihre Rolle nahe zu bringen. Nach der ersten Viertelstunde glaubt man schon einer lieben alkoholkranken Freundin dabei zu zuschauen, wie sie ihr übliches Programm abspult. Sie säuft in sich hinein und alles Reden macht eh keinen Sinn mehr, da es wie gewohnt nur sarkastisch-kluge und einfach saublöde Kommentare geben wird. Und das Unbehagen dabei, weil man weiß: Julia glaubt ihre eigenen Geschichten, hat immer eine parat und steigert sich jedes mal in eine wilde Fantasie hinein und berichtet von an den Haaren herbei gezogenen Dingen und Ereignissen, um sich und vor allem die anderen zu beruhigen. Mundtot zu machen.

Julia ist auf Abstand. Das Saufen ist auch Sicherheit. Hier funktioniert immer alles wie voraus gesehen: ordentlich in sich hineinkippen, das rote Haar schütteln, die langen Beine kreuzen und irgendeinen Mann anvisieren, diesen kräftig anklimpern, den Kopf schief legen, viel und laut lachen und dabei immer das Glas in der Hand bis der Weg zum kurzen, genervten volltrunkenen Sex frei ist. Der nächste Morgen schmeckt bitter und pelzig, aber Julia ist "unabhängig".

Dann geht es alles recht schnell. Die entsprechende Stelle im Film, die alles ins Rollen bringen wird, wird einem am Schluss des Filmes noch einmal ordentlich in die Magengrube gestoßen und lässt einen sinnieren: "Stimmt eigentlich, ach Du Scheiße".
Nun denn, eine ebenfalls alkoholsüchtige Nachbarin spricht Julia an: man halte ihren Sohn von ihr fern, der Vater sei sehr reich, und ob Julia ihren Kleinen nicht entführen könne, ihr Kind sei dann wieder bei ihr und alles würde dann endlich gut werden. Julia ist verzweifelt und blind, lässt sich schnell darauf ein und die Planung wird nach zunächst unerwarteten Anfangsschwierigkeiten ausgeführt. Der Kleine wird schnell entführt, die Nachrichtensender bringen es in den "News", das Geld und die Erlösung naht. Das alles bleibt grandios holprig: Julia hat offensichtlich keine Erfahrung damit, jemanden zu entführen, schon gar nicht einen 10-jährigen Jungen. Völlig empört und geschockt reagiert Julia auf seine Frage, ob sie ihn denn jetzt umbringen werde: "Nein! Natürlich nicht." Mit Kindern hat sie es nicht so und stopft den kleinen Erben mit Cola, Chips und wenigen Schlaftabletten voll, um ihre Ruhe zu haben.

Dann gibt es den ärgerlichen Bruch: Zonca dreht seinen zweiten Film im Film. Julia flieht mit dem kleinen Tom nach Mexiko, nicht ohne ihm vorher noch eine haarsträubende "Deine Mama liebt Dich und sie schickt mich, um Dich zu ihr zu bringen"-Story erzählt zu haben. Die ersten Dialoge mit Tom lassen Julia ein wenig bröckeln: Gespräche bringen einander immer näher, ob man das will oder nicht. Bevor es zu größerer Nähe kommt, zieht Julia aber wieder gekonnt ihre Trennlinie. Tom (Aidan Gould) bringt es auf den Punkt: als Julia eine wilde zusammenphantasierte Geschichte über seine liebevolle, engelhafte und hinreißende Mutter zum Besten gibt, fragt er nur trocken: "Und warum ist sie dann mit DIR befreundet?" So kommt es nach und nach in Julias sicherem Lügenkonstrukt zu kleinen Rissen, durch die das blendende Licht der Realität durchscheint. Und Zonca dreht durch, will von nun an eine wilde exotische Entführungsgeschichte in Mexiko drehen: jaja, biertrinkende Mexikaner, alle kriminell per se, alle grottenarm und durchtrieben, Kampfhunde und Jogginghosen und Goldkettchen und fettige schwarze Haare. Und natürlich Lösegeld und Misstrauen, obskur beschaffte Waffen und weiterhin Julias Spezialität: lügen bis der Arzt kommt. Die Geschichte gerät zur Farce, und es ist Swinton zu verdanken, dass der Film hier nicht völlig in musikalisch untermalte Telenova-Gefilde abrutscht: "Life is so free in America".

Zonca kennt seinen Cassavetes, das zeigt sich allein dadurch, dass er die pure Essenz der Hauptfigur aus dem amerikanischen Original aus dem Jahr 1980 in der Arbeit mit Swinton hinüber rettet und trockene klare Bilder dafür findet, die herrlich unaufgeregt sind. Zonca holte sich hier le Saux, der schon für Ozon (SWIMMING POOL, 2003) meisterhaft mit dem Sonnenlicht zu arbeiten verstand. Heiß und flirrend, ohne jemals pudrig zu werden erinnern sie an die große Dunkelheit, wenn man im Sommer aus dem grellen Licht zurück ins Haus geht und zunächst einmal alles im Dunkeln liegt, bis sich die Augen an das Räumliche wieder gewöhnt haben und so langsam alles wieder sichtbar wird.

So ist Julia.











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