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THE HUMAN CENTIPEDE (FIRST SEQUENCE) (Niederlande 2009)

von Alexander Karenovics

Original Titel. THE HUMAN CENTIPEDE (FIRST SEQUENCE)
Laufzeit in Minuten. 92

Regie. TOM SIX
Drehbuch. TOM SIX
Musik. PATRICK SAVAGE . HOLEG SPIES
Kamera. GOOF DE KONING
Schnitt. TOM SIX
Darsteller. DIETER LASER . ASHLEY C. WILLIAMS . ASHLYNN YENNIE . AKIHIRO KITAMURA u.a.

Review Datum. 2010-10-30
Kinostart Deutschland. nicht bekannt

Warum müssen stets ausländische Produktionen darauf aufmerksam machen, welch hochkarätige Darsteller in unseren Reihen wandeln? Christoph Waltz, Dieter Laser ...

Wer sich nach diversen Festival-Reportagen auf schwarzen Humor gefreut hat, sollte sich den Kauf eines Tickets/der DVD nochmal überlegen. Grotesk ist das allemal, lustig mitnichten; und hin und wieder ein verstörtes Lachen der Verzweiflung macht noch lange keine Komödie. Die Prämisse ist so ungeheuerlich, abwegig und einzigartig, daß man schier nicht weiß wohin mit der Luft. Herzlich amüsieren darf man sich zumindest zu Beginn, wenn zwei junge amerikanische Frauen auf einer Rucksack-Tour durch das deutsche Hinterland so konsequent jedem Klischee des Backwood-Horrors über den Weg stolpern (kein Handy-Signal, Reifenpanne, Regen, auf-Stöckelschuhen-durch-den-Wald-staksen-bis-wir-uns-verirren-guck-mal-da-vorne-ist-ein-Licht), daß man Six nur eine perfide Absicht unterstellen kann: er möchte den Zuschauer in Sicherheit wiegen, bekanntes Terrain vorgaukeln, nur um ihm dann das unvermeidliche Fuck You umso zielgenauer ins Gesicht zu spucken. Spätestens wenn der Aufklärungsbogen auf dem Tisch liegt, disqualifiziert sich auch der Vorwurf der Einfallslosigkeit:

THE HUMAN CENTIPEDE (FIRST SEGMENT) geht mit einer Prämisse an den Start, bei der man kein Abgeordneter einer Ethik-Kommission sein muß um sie buchstäblich zum Kotzen zu finden: Ein wahnsinniger Chirurg (Dieter Laser) ist von der Idee besessen, eine neue Kreatur zu erschaffen: drei Menschen hintereinander, nach einer Patella-Resektion dazu verdammt auf allen Vieren zu krabbeln, Mund an Anus (nach operativer Entfernung des Kiefers), die Innereien bilden von der Speiseröhre des Kopfstücks bis zum Darmausgang des Endglieds einen durchgängigen Verdauungstrakt. Wer sich in leitender Stellung gern den Hintern küssen lässt, hat sich seine Lieblingsposition rasch ausgesucht. Angeblich war Regisseur Tom Six die Idee zugeflogen, als er mit einigen Freunden die TV-Nachrichten verfolgte, und bei der Meldung über einen gefassten Kinderschänder jemand sagte: "Man sollte seinen Mund an den Arsch eines fetten Truck-Fahrers festnähen."

Daß sich mit solch einem Projekt kein Mainstream-Studio den sauberen Namen kontaminieren möchte, versteht sich von selbst. So ist dann auch digitales Equipment Six' einziges Werkzeug, seine durch und durch verderbte Vision zu realisieren, und die aseptische, bis in intimste Hautritzen ausgeleuchtete TV-Optik steht dem Thema überraschend gut - bringt zumindest keine Meta-Ebene zum Vorschein: THE HUMAN CENTIPEDE ist von Kopf bis Sphinkter ganz der geradlinige What-you-see-is-what-you-get Sicko, der nur um des vordergründigen Schock-Effekts Willen die Grenze in ein Land überschreitet, in dem die moralische Überlegung nach kulturellem Wert bestenfalls in Hieroglyphen auf verschlissenen Papyrus gekratzt, und nur noch die formale Ebene beurteilt wird.

Kranker Genius, oder einfach nur kranker Scheiß? Von der Frage abgesehen, wer ein psychologisches Gutachten nötiger hätte - Regisseur oder sein Publikum - muß man Six zugestehen, daß er mit THE HUMAN CENTIPEDE sicherlich einen der originellsten und verstörendsten Body-Horror-Filme seit Kei Fujiwaras ORGAN von der Nabelschnur gelassen hat. Und dabei 100% medizinisch akkurat - um mal die Tag-Line des Posters zu zitieren.

Das Skript bläut dem Zuschauer jedes Detail der Operation so akribisch ein, wie ein verantwortungsvoller Arzt die Komplikationen einer bevorstehenden Herz-OP aufzählen würde, und schafft es so ein bißchen, das ausweglose Entsetzen der unglücklichen Auserwählten ins Publikum zu verpflanzen. Bei Risiken und Nebenwirkungen kotzen Sie bitte in den Eimer. Mit Gewaltdarstellungen hält sich der Film zurück, der Horror ist fast durchweg psychologischer Natur; widerliche graphische Akzente setzt Six so vorsichtig wie einen sterilen Schnitt mit dem Skalpell, allerdings ebenso präzise und wirkungsvoll. Die Tonspur wird von permanentem Stöhnen und Wimmern beherrscht, das Leiden der Charaktere teilweise unerträglich mit anzusehen, und Dieter Laser gibt den psychopathischen Dr. Heiter mit beängstigendem Elan. Wenn er pathetisch verkündet "You are going to be the middle-piece", hat man den Saal entweder längst verlassen oder das anarchistische Regelwerk des Genres akzeptiert: Regeln sind dazu da, gebrochen zu werden. Und es ist schon ein kleines masochistisches Vergnügen, dabei zuzusehen, wie hier hingebungsvoll auf den Eid des Hippokrates gepisst wird.

Ein zweiter Teil (FULL SEGMENT) steckt im Ofen; ob als Fortsetzung oder Prequel konzipiert, ist noch unklar. Eines ist jedoch sicher: über FIRST SEGMENT wird man in Zukunft noch häufig reden - selbstverständlich hinter vorgehaltener Hand. Aber ihren festen Platz im nach Formaldehyd stinkenden Freak-Archiv filmischen Wahnsinns hat sich diese auf morbide Weise faszinierende Mißgeburt redlich verdient.











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