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Der Banker ist ihm so wenig fremd wie das Bettelweib oder der Mörder: Mühelos schlüpft der geheimnisvolle Superschauspieler "Monsieur Oscar" in ihre Haut und verleiht ihnen eine wunderbare tragische Würde. Die furiose Kino-Allegorie HOLY MOTORS wäre wohl ein Meisterwerk, würde Avantgarde-Regisseur Leos Carax auch einen Blick fürs Publikum haben.
Die ganze Welt ist eine Bühne, heißt es bei Shakespeare. Die ganze Welt ist ein Filmset, finden in HOLY MOTORS Monsieur Oscar (Denis Lavant) und der rätselhafte Mann mit dem weinroten Fleck im Gesicht (Michel Piccoli in einem Kürzestauftritt). Sie meinen damit die Kameras, die an öffentlichen Plätzen und in den Gebäuden installiert sind, in denen wir leben und arbeiten. Für diese allgegenwärtigen Objektive spielt Monsieur Oscar, in einer weißen Strechlimousine von Einsatzort zu Einsatzort durch Paris eilend, Banker und Bettelweiber, Mörder und Großbürger. Er verleiht ihrer Existenz seelische Tiefe. Die Schönheit dieser Darstellungen, philosophiert Mon-sieur Oscar, "liegt im Auge des Betrachters". Doch fragt er sich bang: Gibt es über-haupt noch Betrachter? Für wen spielt Monsieur Oscar?
Avantgarde-Filmemacher Leos Carax begeistert nicht nur mit einem spannenden Konzept, sondern auch mit bald burlesken und schrillen, bald leisen und geheimnis-vollen Drehbuch- und Regieeinfällen. Seine Bilder prägen sich mit dem Versprechen der Unauslöschlichkeit ein. Hauptdarsteller Denis Lavant erfüllt die zehn sorgfältig komponierten Tableaus, in die sich seine Auftritte als Monsieur Oscar gliedern, mit mitreißendem Furor. Sein geradezu grobes Gesicht und der untersetzte Körper lie-fern sich ein faszinierendes Widerspiel mit seiner stupenden Verwandlungsfähigkeit. Respektvoll, ja ehrfürchtig behandelt ihn die Kamera von Yves Cape und Caroline Champetier, wenn er in den Lumpen eines abstoßenden Clochards Kay L alias Eva Mendes von einem glamourösen Fotoshooting entführt.
Und dennoch beschleicht bei HOLY MOTORS Unbehagen. Die religiöse Kunst-Verklärung wirkt befremdlich. Leos Carax tritt im eigenen Film als eine Art blinder Seher auf, dem der Tatsinn eine neue Wahrheit eröffnet, während ein Kinopublikum im Tiefschlaf gezeigt wird. Was Monsieur Óscar als Banker formuliert: "Wir sind die Sündenböcke für das Elend der Welt", gilt auch für den Schauspieler: Er nimmt bei Carax die Schuld der anderen auf sich. Aber wer sind diese anderen? Das Publikum?
Die Betrachter, das Publikum, für das Monsieur Oscar eigentlich spielen sollte, ist bei Carax nicht nur in kommerziellen Illusionen befangen und wird mit Affen verglichen. Es wird ihm auch kein eigener Blick zugestanden, es kann nichts selbst entdecken in dem undurchdringlichen Gemengelage von Realität und Phantasie. Die Darsteller diktieren, wie das Gesehene zu verstehen ist. Ob Monsieur Oscars Kollegin und alte Liebe Jean, die Kylie Minogue mit dunkler Perücke über blondem Bubikopf gibt, nur in ihrer Rolle als lebensmüder Stewardess Grace oder ‚wirklich' stirbt, lässt sich nur an Monsieur Oscars Reaktionen ablesen. Die Zukunft des Kinos, die Carax so aufwendig allegorisiert, stellt man sich weniger bevormundend vor.
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