Die Märchen und Sagen der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm haben auch in der Geschichte des Kinos deutliche Spuren hinterlassen. Zwischen den ersten Verfilmungen in der Stummfilmzeit und den modernen Adaptionen liegen teils über hundert Jahre. Erstaunlicherweise fristen Märchenfilme seit jeher ein eher belächeltes Dasein. Dies mag daran liegen, dass sich die jeweiligen Werke vor allem in den Anfangstagen des Kinos und bis in die Nachkriegszeit hinein primär an ein sehr junges Publikum gerichtet haben.
Eine Aufwertung erfolgte, ungeachtet der über die Jahre hinweg konstant hohen Präsenz in den Lichtspielhäusern, erst vergleichsweise spät. Zwar wurde bereits in den siebziger Jahren erkannt, dass zahlreiche Elemente von Blockbustern wie KRIEG DER STERNE auf die Narrative von Märchen verweisen, der Einfluss auf die Filmgeschichte blieb dennoch jahre- bzw. jahrzehntelang unterschätzt. Erst als Filmemacher begannen die Mythen als Ideengeber für eher erwachsene Stoffe zu nutzen (beispielhaft z.B. Neil Jordans unterschätztes Meisterwerk DIE ZEIT DER WÖLFE aus dem Jahr 1984), wurde die Bedeutung der Vorlagen für die Kunstform Kino überdeutlich - wenn auch nicht für die breite Masse der Kulturjournalisten.
Im Zuge dieser Entwicklung kam auch der Begriff "Märchen für Erwachsene" verstärkt auf. Obwohl diese Filmgattung mehr oder minder nie ganz klar definiert wurde, lassen sich die jeweiligen Werke wohl am besten damit beschreiben, dass hier klassische Märchenthemen für ein eher älteres Publikum aufbereitet wurden. Mal im Gewand historischer Erzählungen, mal angesiedelt in einem modernen Setting (genannt sei hier z.B. FREEWAY aus dem Jahr 1996). Gemeinsam ist vielen dieser Filme die Fokussierung auf die psychologischen Tiefen der Vorlagen und die oftmals drastische Darstellung von Gewalt, Tod und Elend.
Im Genre-Kino selbst hat sich im Laufe der letzten Jahre eine verspielt-ironische Haltung durchgesetzt. Die Vorlagen werden variiert, mit Meta-Ebenen aufgeladen und von ihren Ambivalenzen befreit. Es dominieren Werke, die die Essenz der Vorlagen lediglich als Ausgangspunkt für Fun und Entertainment sehen. Eine wie auch immer geartete ernstzunehmende Auseinandersetzung mit den Vorlagen bleibt meist bloße Behauptung. Vorherrschend bleiben (trotz Ausnahmen) profane Mainstream-Auswüchse wie der im Fahrwasser der TWILIGHT-FILME entstandene RED RIDING HOOD oder das Funsplatter-Gepolter HÄNSEL & GRETEL: HEXENJÄGER. Vergleichsweise innovative Ansätze kamen eine Zeit lang aus Asien (genauer: Südkorea), wo Filme wie der wilde Cyberspace-Actioner RESURECTION OF THE LITTLE MATCH GIRL die Vorlagen in eine postmoderne Bildsprache übersetzt haben und hier teils spannende Culture-Clash-Momente evozierten.
Mit GRETEL & HÄNSEL wird in diesem Sommer (Start in den USA war bereits Februar 2020) hingegen ein Film in die hiesigen Kinos gebracht, der stärker an einer werkgetreuen Umsetzung der Vorlage interessiert ist. Dies allerdings nicht als exakte Wiedergabe der Geschichte, sondern als Verbeugung vor den Schlüsselmotiven der grimmschen Vorlage und dem darin schlummernden Potential für das Genre-Kino.
Die Story ist altbekannt: Die Geschwister Hänsel und Gretel (überzeugend: Sophia Lillis) verirren sich im Wald und werden von einer alten Frau (Alice Krige) in ihre mysteriöse Behausung gelockt. Dort erwartet Bruder und Schwester zunächst eine nicht enden wollende Flut köstlicher Speisen, die den Beiden in Zeiten von Hungersnöten die Sinne komplett vernebelt. Nach und nach entdeckt Gretel jedoch, dass ihre Gastgeberin Böses im Schilde führt und die Geschwister Teil eines teuflischen Plans sind.
Regisseur Osgood Perkins setzt bei seiner Neuinterpretation des Klassikers vor allem auf den Aufbau einer düsteren und enorm unheilvollen Atmosphäre, die er im Filmverlauf mit immer stärker zu Tage tretenden surrealen Elementen auffüllt. Bereits nach kurzer Zeit entsteht ein Sog, dem man sich kaum entziehen kann. Durch die Verwendung wiederkehrender Symbole (geometrische Formen etc.) und Motive generiert Perkins ein reizvolles Zeichensystems innerhalb des Films, dass durch die Verweise auf Kinokultur und Kunst mit zusätzlichen Referenzpunkten aufgeladen wird.
GRETEL & HÄNSEL positioniert sich zwar klar als Horror-Film, lässt das Grauen aber, von wenigen Szenen abgesehen, eher subtil in den Film einsickern. Über allem, über jeder Szene, liegt ein düsterer Schleier, durch den die Protagonisten hindurch wandern (müssen). Eine latente Bedrohung, die Perkins mit mysteriösen Maskierungen, Traumsequenzen und nervenaufreibender musikalischer Untermalung im Verlauf der kompakten Laufzeit (unter 90 Minuten Spielzeit) immer weiter auf die Spitze treibt. Die einnehmende Farbgestaltung der Bilder macht den Film dabei zu einem optischen Hochgenuss.
Da Perkins die weiblichen Figuren (Gretel und die Hexe) in den Mittelpunkt stellt, ergibt sich ein interessantes Wechselspiel zwischen positiv und negativ konnotierten Geschlechterstereotypen. Gut gegen Böse. Die pure Unschuld gegen die Ausgeburten der Hölle. GRETEL & HÄNSEL erzählt diesen Kampf beinahe mit feministischer Note. Gretels Reise durch die alptraumhaften Welten des Hexenhauses wird von Perkins als Erweckungserlebnis und Selbstermächtigungserfahrung dargestellt. Sehr früh wird diesbezüglich deutlich, dass nur Gretel die Macht hat gegen die finsteren Kräfte der Hexe aufzubegehren. Die Opferrolle bleibt dabei Hänsel vorbehalten, dessen Rolle (trotz souveräner Darstellung von Samuel J. Leakey) fast schon überflüssig wirkt.
GRETEL & HÄNSEL lebt von den verborgenen Schichten der Erzählung, die Perkins gekonnt offenlegt und die den Film zu einem unerwartet vielschichtigen Genre-Beitrag machen. Der dritte Langfilm des Regisseurs (nach DIE TOCHTER DES TEUFELS und der Netflix-Produktion I AM THE PRETTY THING THAT LIVES IN THE HOUSE) ist somit eine echte Überraschung, für die man gerne das Kinoticket löst. Bleibt zu hoffen, dass das Einspielergebnis hierzulande besser ausfällt als in den USA, wo der Film die Erwartungen nicht wirklich erfüllen konnte.
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