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Das kommende Kinojahr beginnt gerade erst, und schon drei Wochen nach dem Startschuss läuft ein Film an, der gleich unmissverständlich klarmacht, wo 2009 der Hammer hängt. Dieses Drama namens DER FREMDE SOHN vermeldet mit einem nicht unrechtmäßig aufgesetzten, siegessicheren Lächeln: Wer Film des Jahres werden will, muss an mir vorbei.
Verantwortlich dafür ist ein gewisser Herr Eastwood, den wir nicht erst seit seinen bis zum Umfallen gefeierten Spätwerken kennen. Der Mann ist so eine Art Filmstreber, dem man, selbst wenn man wollte, in kaum einer Hinsicht Fehler aufzeigen könnte. Er scheint irgendwie fast alles zu können: Schauspielerei, Produktion, Regie sowieso, sogar Musik; hinzu kommt, dass er in seiner langen Karriere durch allerlei Genres geritten und bei seiner Ankunft regelmäßig von begeisterten Kritikern bejubelt worden ist. Mag sein, dass gerade bei seinen Regiearbeiten der letzten Jahre rückblickend der eine oder andere Film dabei war, der all das überschwängliche Lob nicht in dem Maße verdient hatte. MILLION DOLLAR BABY zum Beispiel, der trotz Oscars gegen Alejandro Amenábars thematisch verwandten DAS MEER IN MIR ziemlich alt aussah. Andere dagegen wurden zu recht gefeiert, wie der brillante MYSTIC RIVER oder der Kriegsfilm-Doppelschlag FLAGS OF OUR FATHERS / LETTERS FROM IWO JIMA, mit dem Eastwood ein beispielhaftes cineastisches Schachmatt in zwei Zügen vorführte. So wohlwollend wird hoffentlich auch DER FREMDE SOHN behandelt werden, denn eine Kleinigkeit unterscheidet ihn von Eastwoods vorangehenden Werken: Er ist noch ausgereifter, noch besser.
Die Eingangssequenz zeigt gleich ab der ersten Sekunde, in der das alte Universal-Logo wie ein Ausrufezeichen auf der Leinwand prangt, dass Fragen über die Authentizität oder das historisch-korrekte Szenenbild gänzlich überflüssig sein werden. Von der Kleidung der Menschen im Los Angeles der späten 1920er Jahre, in dem der Film angesiedelt ist, über Autos und Werbeschilder bis hin zu den ulkigen Rollschuhen, auf denen Angelina Jolie als Protagonistin Christine Collins in der Telefon-Schaltzentrale dahingleitet: Hier ist an alles gedacht worden, selbst kleinste Fehler wirken ausgeschlossen. Nach dieser atmosphärischen Qualitätsdemonstration geht die Geschichte langsam aber sicher in die Vollen.
Christine Collins (Angelina Jolie) lebt als alleinerziehende Mutter des neunjährigen Walter in LA. Es geschieht im Jahr 1928, dass sie eines Tages nach Hause kommt und dort nur ein leeres Haus vorfindet. Erst nach fünf langen Monaten meldet sich die Polizei bei Frau Collins – und zwar mit guten Neuigkeiten: Ihr Kleiner sei wieder da, aufgegriffen in der Provinz, durcheinander aber wohlauf. Die anfängliche Freude wandelt sich in tiefe Traurigkeit, als die Mutter feststellen muss, dass der zurückgebrachte Junge eben nicht ihr Sohn ist, selbst wenn die Polizei und sogar der Dreikäsehoch das behaupten. Doch Collins' Albtraum fängt erst an: Das Los Angeles Police Department erntet ohnehin nur Negativschlagzeilen, sodass man dort nicht gewillt ist, einen solchen Fehler einzugestehen. Der leitende Beamte J.J. Jones (Jeffrey Donovan) versucht, die angeblich verwirrte Mutter mundtot zu machen – ohne Erfolg. Doch es geht auch rabiater: Eine bewusste Falschaussage des Kinderarztes und eine Zwangseinweisung in die Klapsmühle später ist Collins fast am Ende. Fast, denn ihr Wille, ihren einzigen Sohn zurückzubekommen, ist ungebrochen. Durch die Hilfe des Pfarrers Briegleb (John Malkovich) kommt Collins wieder aus der psychiatrischen Anstalt frei und macht es sich zum Ziel, gegen die korrupte Polizeimaschinerie vorzugehen. Zunächst ungewollt greift ihr auch Detective Lester Ybarra (David Kelly) unter die Arme, der einen scheinbaren Routinefall untersucht, der immer größere Kreise zieht und – wie sich herausstellt – mit Walters Verschwinden zusammenhängt. Im Laufe der konvergierenden Ermittlungen wird die Wahrheit ans Licht kommen – und sie wird grauenvoller sein, als Collins sich je vorgestellt hätte.
Klingt unfassbar, ist aber wahr: Die Geschichte von Christine Collins hat Drehbuchautor J. Michael Straczynski, bekannt als TV-Serienautor (BABYLON 5, MORD IST IHR HOBBY), aus verstaubten staatlichen Archiven ausgegraben und in ein präzise komponiertes, nur sehr dezent spekulatives Script verwandelt. Ob alles wirklich genau so abgelaufen ist, ist in diesem Fall sowieso nur bedingt relevant; viel wichtiger ist, dass man dem Film in jedem Moment glaubt, dass es genau so abgelaufen ist. Dieses Vertrauen und die erschreckende Spannung, die daraus resultiert, ist in zweierlei Hinsicht dem Meister hinter DER FREMDE SOHN geschuldet: Clint Eastwoods ruhige Regie und die gewohnt bedächtige Erzählstruktur, die ein spektakuläres Finale ebenso verweigert wie das Hollywood-typische "Mal schnell den Aufwasch machen"-Ende, stehen Straczynskis Story um die verzweifelte Mutter unheimlich gut zu Gesicht. Hinzu kommt der ebenfalls von Eastwood komponierte Score, der die von Tom Stern eingefangenen Bilder mit teils sanft vorüberziehenden, teils dramatisch auflodernden Klängen unaufdringlich unterstreicht.
Vor der Kamera sorgt ein bunt gemischtes Sammelsurium an bekannten und seltener gesehenen Gesichtern für höchstes Niveau. In den Nebenrollen dürfen sich David Kelly und Jason Butler Harner – letzterer in gänsehauttauglich verstörender Weise – außerordentlicher Leistungen rühmen. Getragen wird die Geschichte jedoch hauptsächlich von Angelina Jolie und John Malkovich, die beide ihren ambivalenten Charakteren tiefgründiges Leben einhauchen. Von Malkovich ist man das ja gewöhnt, bei Jolie durfte man sich in der Vergangenheit nicht immer so sicher sein, zumal die wunderschöne Ex-Grenzgängerin in letzter Zeit öfter durch den nervtötenden "Brangelina"-Familienzirkus in den Medien vertreten war als durch ihr zweifellos gutes Schauspiel. Umso erfreulicher, dass sie in DER FREMDE SOHN den Gefühlshahn so aufdreht und so schmerzhaft genau den richtigen Ton trifft, dass sie alle anderen Glanzvorstellungen im Film problemlos in Grund und Boden zimmert.
Man könnte jetzt Nichtigkeiten kritisieren, wie zum Beispiel dass Jolie bzw. Collins trotz einer mehrere Jahre umspannenden Handlung am Ende nicht signifikant anders aussieht als am Anfang. Man kann es aber auch einfach lassen und stattdessen sagen: Wenn Opa Eastwood eine Geschichte zu erzählen hat, dann hören und sehen wir kleinen und großen Kinder doch gerne zu. Auch dieses Mal werden wir es nicht bereuen.
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