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LA FRANCE (Frankreich 2007)

von Claudia Siefen

Original Titel. LA FRANCE
Laufzeit in Minuten. 102

Regie. SERGE BOZON
Drehbuch. SERGE BOZON . AXELLE ROPERT
Musik. BENJAMIN ESDRAFFO . LAURENT TALON . MEHDI ZANNAD
Kamera. CÉLINE BOZON
Schnitt. FRANCOIS QUIQUERÉ
Darsteller. SYLVIE TESTUD . PASCAL GREGGORY . GUILLAUME VERDIER . DIDIER BRICE u.a.

Review Datum. 2007-11-14
Kinostart Deutschland. nicht bekannt

Frankreich 1917, der 1. Weltkrieg steht kurz vor seinem Ende. Aus heutiger Sicht markiert der 1. Weltkrieg (1914-1918) in seiner technischen Organisation, seinem planvollen Einsatz von Giftgas, Panzern und Flugzeugen das Ende einer "unschuldigen" Schlacht, sprich einem direkten Gegenüber von vermeintlich sich feindlich gesonnenen Truppen.

Die grosse Schlacht von Verdun im Nordosten Frankreichs mit mehr als 180.000 Ermordeten auf französischer Seite und etwa 150.000 seitens der Deutschen ist der Ausgangspunkt dieser Geschichte des 35jährigen französischen Regisseurs, Filmkritikers und Schauspielers Serge Bozon. Mit LA FRANCE hält er aber keine Geschichtsstunde ab, wie manche Kinobesucher während der Vorführung enttäuscht flüsternd feststellen müssen, sondern er gibt ein allumfassendes versuchtes Portrait des Begriffes von "Liebe" und "Menschlichkeit", der Mensch in seiner Suche nach Wärme und Zuneigung, die sich bei Bozon vor allem in der Kommunikation manifestiert, dem Austausch von Gedanken, dem Geschichtenerzählen und nicht zuletzt dem gemeinsamen Singen von Liedern und für einander da zu sein.

Im Mittelpunkt steht zuerst die jungverheiratete Camille (Testud), die noch wohlbehütet mit ihren Schwestern tagtäglich einen Hügel in der Nähe ihres Elternhauses erklettert, um das Herannahen des Krieges am Kanonengewitter zu beobachten und sich zu fragen, wann ihr geliebter Mann wieder heimkehren wird. Ein kurzer Brief ihres Mannes ("Schreibe mir nicht mehr! Ich werde nicht mehr zu Dir zurückkehren!") reisst sie aus ihrer Lethargie, dem täglichen Abwarten seiner Wiederkehr und Camille packt einen kleinen Koffer um sich auf den Weg zu machen. Was natürlich fehlschlägt: zwei Soldaten schicken "die Frau" wieder nach Hause und in der selben Nacht schneidet Camille sich das lange Haar, trägt Hose, Hemd und Jacke ihres Bruders und stapft unbehelligt davon. Bei Testud, die Dank eines nicht zustandegekommenen Projektes von Bozon besetzt werden konnte, wird diese "verkleidung" aber nicht zu einer Methamorphose oder gar zu einem "Gender-Drama", Camille ist von Beginn an ein wenig spröde und selbstständig, tut gerne ihre Meinung kund: sie vereinigt eben typisch "männliche" Attribute. Sie bleibt Camille, nur in Hosen und mit kurzem Haar; nicht einmal ihren Namen muss sie ändern, da Camille sowohl als männlicher als auch als weiblicher Name in Gebrauch ist. Nach den ersten Tagen begegnet sie einem Trupp von französischen Soldaten, dem sie sich anschliesst und sich in der Nacht einfach bei einem der Soldaten auf der Decke zusammenrollt, um erschöpft einzuschlafen. Als sie am nächsten Morgen entdeckt wird, passt dies dem verantwortlichen Lieutnant (Pascal Greggory) überhaupt nicht: "Du bist irgendwie anders, ich seh' das an Deinen Augen. Du suchst den Tod." Und so jemanden will man natürlich nicht bei sich haben. Camille lässt sich aber nicht abschütteln und nach einigem Hin und Her akzeptiert man schliesslich ihre (seine) Anwesenheit. Dass sie eine Frau ist, behält sie für sich, die anderen nervt nur dass sie "für einen Mann ziemlich viel redet".

Camille ist auf der Suche nach dem Battaillon, dem ihr Ehemann angehört und der Krieg schwebt als Gespenst über der Truppe, dass mit dieser etwas nicht stimmt, zeigt sich schnell: man wandert möglichst unauffällig, jeder hat eine empfindsame Geschichte zu erzählen und ohne Pathos erfährt man das grosse Unheil, dass sich über die Gruppe gelegt hat: sie haben einen Verletzten zurückgelassen und der Lieutnant trägt an der Last, einen ihm Schutzbefohlenen im Stich gelassen zu haben. Diesen Schutz hat er vernachlässigt um den Rest der Truppe zu retten und eine unendliche Traurigkeit liegt in allen Bewegungen, der Versuch, des "Menschbleibens" in der Zeit des Tötens. So ist die Gruppe auf den Weg nach Holland, dem neutralen Boden ganz in der Nähe, alle sind sie auf der Flucht, Deserteure. Nach einem abendlichen Pilzmahl rettet Camille die gesamt Truppe vor einem Vergiftungstod, sie selbst war nicht hungrig und so sehen sich alle in ihrer Schuld und man lässt sie mitziehen. Die Farben sind leuchtend blau und grau und grün, ein saftiger Nebel legt sich über die Landschaft und in regelmässigen Abständen stimmen die Kameraden ein Lied an, die Melodie bleibt die selbe, nur der Text erzählt im Kontext zur Filmhandlung von einer jungen Frau, die in ihrer Kammer auf den Geliebten wartet und von der Sehnsucht, endlich ein Zuhause zu finden in einem geliebten Menschen.

Diese Lieder mögen zuerst sehr irritierend sein, gesungen wurde aber in Kriegen immer schon, und die zunächst wahrgenommene Präzision verwischt sich schnell: Bozon hat diese Szenen im Originalton belassen, das heisst, sämtliche Lieder wurden direkt am Set musiziert und eingesungen. Dabei kommen ihm seine privaten Kontakte zugute, denn wie Bozon erzählt, besteht der ganze Trupp aus musikalischen französischen Filmkritikern und Musikern. Die Lieder "passieren" unauffällig, verklingen und hinterlassen ein tieferes Verständnis zur Situation als dies jede eingespielte Filmmusik je zu Stande bringen könnte! Kleine Psychologien verfeinern diese Situationen: als Camille einem Spion begegnet und ihn zur Position der Truppe ihres Mannes befragt, fürchtet sie zunächst um ihre Begleiter, stellt aber fest, dass diese sich allesamt zur rechten Zeit in einer Baumkrone versteckt haben. Der Spion schaut natürlich nicht nach "oben", um den Feind auszumachen, so entgehen die Männer seinem Blickfeld, dass er nur auf Augenhöhe hält oder gar am Boden. Die Männer sind müde, hungrig und frieren und ein Bauer mit seinem Sohn scheint zunächst eine Nächstenliebe versprühende Zuwendung zu sein. Doch als der Sohn zufällig mitbekommt, dass Camille eine Frau ist scheitert wohl sein Vergewaltigungsversuch: er wird ermordet und der Vater schwört Rache: "Ich wusste von Anfang an, dass ihr Deserteure seid, schaut euch nur mal an!", und so steht der Lieutnant zum wiederholten Male vor der Aufgabe, seine Gruppe direkt zu verteidigen. Er tötet mit enormen Kraftaufwand den alten Bauern, sinkt auf den Boden und krümmt sich schliesslich in einer Ecke zusammen. Die aus ihrer Schreckensstarre erwachende Gruppe sammelt sich tröstend um ihn, ein zartes Flüstern bis alle sich einfach zu ihm setzen und schweigen, der Lieutnant weint leise. Mit Camille auf den Schultern verlässt man den Bauernhof und zündet ihn noch an, um alle Spuren zu verwischen. Und schliesslich taucht aus dem Nichts eine Gestalt auf, im grauen Schnee hat man zuvor davon gesungen, dass der Liebste heimkehren wird und dass die junge Protagonistin der Lieder keine Angst davor hat, ihm wieder zu begegnen. Die wahre Liebe ist unaufgeregt. Camille erkennt seinen Schritt und geht auf ihn zu, als sie mit ihm spricht ist ihr klar, dass er sie nicht erkennt und dennoch hungrig ihren Kuss annimmt, in ihrer Wärme erkennt er sie: "Camille?"

Guillaume Depardieu hat hier einen kraftvollen Gastauftritt in der letzten Viertelstunde. Kaum Gestik und der Blick immer auf den Boden geheftet, Camille ist sich in ihrer Wärme und wieder erlangten Freiheit (sie hat dem Trupp nach den Geschehnissen auf dem Bauernhof ihre Geschichte erzählt) darüber im Klaren, dass es Zeit brauchen wird, um ihren Mann tatsächlich wieder "zurück zu bekommen". Der Lieutnant nickt: "Ich wusste es ja, Du hast den Tod gesucht." Und Camille schaut ihn nur an: "Nein, meinen Mann." Der Blick des Lieutnants streift den Gatten nur kurz: "Das ist das selbe." Dann machen sie sich weiter auf den Weg und lassen Camille mit ihrem Mann zurück. Beide finden ihr Haus unbeschädigt vor und die erste gemeinsame Liebesnacht erweist sich unheilvoll als mechanischer Akt, etwas, das er hinter sich bringen muss, da sie es erwartet. Grossartig die Kadrierung hierzu: während Camille zunächst allein auf dem Bett liegt schiebt sich von rechts der Körper Depardieus ins Bild, langsam und doch zügig bis er sich in richtiger Höhe befindet und die Arme aufstützt, als wolle er Liegestützen absolvieren. Camille schliesst noch die Augen: "Sei zärtlicher!" "Sicher." Sonst sagt er nichts.

Camille ist eingeschlafen und Francois sitzt mitten in der Nacht nackt auf dem Fensterbrett, er schaut zu den Sternen und den drei Hellsten gibt er die Namen seiner Kameraden: er flüstert die Namen in die Nacht hinaus.











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