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ENTER THE VOID (Frankreich/Deutschland/Italien 2010)

von Björn Lahrmann

Original Titel. ENTER THE VOID
Laufzeit in Minuten. 163

Regie. GASPAR NOÉ
Drehbuch. GASPAR NOÉ
Musik. THOMAS BANGALTER
Kamera. BENOÎT DEBIE
Schnitt. MARC BOUCROT . GASPAR NOÉ
Darsteller. NATHANIEL BROWN . PAZ DE LA HUERTA . CYRIL ROY . OLLY ALEXANDER u.a.

Review Datum. 2010-06-26
Kinostart Deutschland. 2010-08-26

Eine Geistermotte fickt das Licht. Unruhig schwirrt sie unter der Decke, sieht herab auf die Welt, auf Menschen, die ein Aufschauen wahrlich nicht verdienen. Sie schreien, bluten, schmeißen Pillen. Die Motte ist kein gewöhnliches Insekt, sie gleitet wie Nichts durch Materie, durch Türen und Wände, selbst Haut und Haar sind vor ihr nicht sicher. Penetration als Daseinsform. In Menschenköpfen nistet sie gern beim Sex; auch die ficken das Licht, ihren Geschlechtern entweicht fluoreszierender Dampf, wahre Leucht-Körper. Befindet sich eine Glühbirne im Zimmer – und wo gibt's die nicht, hier im Neonsumpf Tokio? –, zieht es die Motte hinein mit magnetischer Kraft; vorbei an flackernden Fraktalen und Quasaren krümmen sich auf dem elektrische Highway Raum und Zeit.

Gaspar Noés ENTER THE VOID ist ein filmgewordener twitch of the death nerve, zweieinhalb Stunden Nahtod- und kinematografische Grenzerfahrung der kinnladenknallenden Sorte. Die Motte, die eine Seele ist, war einmal ein Mensch, der Oscar (Nathaniel Brown) hieß. Ein kleiner Dealer, selbst auch Junkie, was ja nie eine gute Kombination abgibt. Zu Anfang ist die Kamera mit seinem Blick verwachsen, vielleicht die gelungenste Eigenwahrnehmungssimulation seit STRANGE DAYS, schwingend statt wackelnd, mit Blendenverschluss-Blinzlern, die eigene Stimme dumpf im Ohr u.s.w. Eher früher als später führen dann aber die Umstände zu Oscars Ableben, da befreit sich der Blick aus dem Subjektkorsett, beginnt vogelperspektivisch zu schweben über den Dingen und Menschen, die der Sterbende zurück lässt, sich selbst inklusive.

Was zunächst überrascht an ENTER THE VOID ist sein Tempo. Der grandiose Vorspann bereitet auf Halsbrecherisches vor, zu zuckenden Beats ballern die Credits vorbei wie Fassadenwerbung an Suizidspringern. Man erinnert sich an den Beginn von IRREVERSIBEL, die Pirouetten und Überschläge, den Lärm, die Orientierungslosigkeit. Hier dagegen: Stille. Keine Bewegungsattacken, sondern ein gleichmäßig fortlaufender synästhetischer Strom, nervös zwar, aber nicht tollwütig, aus unnatürlichen Winkeln, in fremden Farben glühend, von wattiertem Dröhnen ummantelt. Ein weicher Rausch. Tod, Trip und Orgasmus bilden in diesem Film eine Sinnlichkeitstrias; nicht zufällig nimmt das kurze High, das Oscar sich zu Beginn einwirft, die postmortalen Sprünge ins Licht vorweg. Diese teils minutenlangen Sequenzen – halb 2001-Sterntorflug, halb bakteriologisches Phantasma – katapultieren Oscar quer durch die Erinnerungslandschaft. Hinterrücks schaut er da seinem jüngeren Selbst über die Schulter, assoziative Fragmente, die sich langsam zur Biografie fügen.

Es fällt irrsinnig leicht, sich von Noés hypnagogischem Lichtspiel überwältigen zu lassen, sich trunken vom optischen Besäufnis in blumige Umschreibungen zu flüchten, s.o., schuldig im Sinne der Anklage. In seinen kühnsten Momenten weckt ENTER THE VOID Erinnerungen ans strukturalistische Kino, an Michael Snow oder Stan Brakhage. Dummerweise will der Film aber mehr sein als schnöder Oberflächenreiz, und da wird es knifflig. Noé hat, als Erzähler, immer mindestens die conditio humana auf dem Herzen, um die es naturgemäß schlecht bestellt ist. Zu Illustrationszwecken sind seine Figuren nicht nett, ihre Geschichten nicht interessant, ihr Schicksal deprimierend stereotyp. Oscars Schwester etwa, die als glockenklare Unschuld mit Inzest-Anhauch nach Tokio kommt, konvertiert schneller zur Stripperin, als man "schiefe Bahn" sagen kann.

Wenn es mit derlei billigen Nihilismen wenigstens getan wäre. Das Leben aber ist nicht bloß scheiße, sondern auch ach! so kostbar. Daher muss man sich neben Elend, Schmutz und schlechtem Schauspiel haufenweise esoterisch aufgeladene Fruchtbarkeitsmystik gefallen lassen. Transzendenzhumbug aus dem tibetanischen Totenbuch mischt sich da mit jauchzendem Hoheliedgesang auf geschwollene Brüste und glänzende Vaginaltrakte. Wie das alles zusammen passen soll, Lebensekel und Todeshymnus, Hysterie und Meditation, Neugeborene im heiligen Licht und Föten in der Abfalltonne: Keine Ahnung. Dass Noé noch die lächerlichsten Einfällen in einen Bildersog ohne Gleichen zu verwandeln weiß, macht die Sache nicht weniger schizophren. Man müsste die Idee von der Form abziehen können wie eine lästige Schutzfolie. Mit etwas zeitlichem Abstand hat das in nicht wenigen Fällen schon funktioniert, die man heute Meisterwerk nennt. Für den Moment ist ENTER THE VOID ein debiler Virtuosenstreich, genialer Schwachsinn – und ein Film, den man dieses Jahr, im Guten wie im Schlechten, gesehen haben muss.











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