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Angesiedelt in den 1970er Jahren. Ein Teenager, dessen Hormone verrückt spielen. Eine Familie, die früher als 'dysfunktional', heute als 'Patchwork' bezeichnet wird. Eine Erzählweise, die andere Künste und Medien einbezieht. Es ist unübersehbar: Obwohl nicht überragend, kommt THE DIARY OF A TEENAGE GIRL doch das Verdienst zu, nicht einfach eine Coming of Age-Dramödie zu liefern, sondern darüber hinaus die Bedingungen der (pseudo-)autobiographischen Projektionen der französischen Nouvelle Vague nachzustellen, die das Coming-of-Age-Genre maßgeblich geprägt haben.
Der Sommer 1976 in San Francisco verläuft für die fünfzehnjährige Minne Goetze (Bel Powley) erotisch unerhört aufregend. Umso mehr verlangt es sie danach, ihre pikanten Erlebnisse dem Mikrofon ihres Kassettenrekorders anzuvertrauen. Die akustische Tagebuchaufzeichnung hilft ihr zu verstehen, was in ihr passiert, und gibt dem Film seinen Titel. Manchmal nimmt Minnie ihre Geständnisse schon in dem Bus auf, der sie von der Schule nach Hause bringt. Die anderen Fahrgäste schenken ihr dabei so wenig Aufmerksamkeit wie ihr Zuhause. Mit ihrer jüngeren Schwester Gretel (Abby Wait) kabbelt sie sich nur. Mutter Charlotte (Kristen Wiig), die in einer Bibliothek arbeitet, hat abgesehen von alibihaftem Feminismus-Gelaber bloß Koksen und Partymachen im Kopf. Ihren Vater kennt Minnie nur vom Hörensagen. Seine Stelle hat zunächst der Wissenschaftler Pascal (Christopher Meloni) eingenommen. Von ihm hat sich die Mutter aber scheiden lassen. Jetzt ist sie mit Monroe Rutherford (Alexander Skarsgard) zusammen, für Minnie "der bestaussehendste Mann der Welt". Sie wird ihn verführen.
Das emotionale Aufbegehren des vernachlässigten Heranwachsenden in diesem Film zwingt geradezu dazu, an Franois Truffaut zu denken. Zumal THE DIARY OF A TEENAGE GIRL so exakt Flair, Mode und Ambiente der 1970er Jahre rekonstruiert, in denen Truffaut einige seiner schönsten Filme gelungen sind. Sein Einfluss ist so spürbar, als wäre er 1977 nicht bloß nach Amerika geflogen, um in Steven Spielbergs euphorischem Science-Fiction-Film UNHEIMLICHE BEGEGNUNG DER DRITTEN ART als Darsteller mitzuwirken, sondern hätte auch an einem College in San Francisco einen Kurs im Filmemachen gegeben. Marielle Hellers THE DIARY OF A TEENAGE GIRL ginge gut und gerne als Abschlusswerk eines solchen Kurses durch.
Unschwer hätte Truffaut in Minnie eine Schwester seines Antoine Doinel erkennen dürfen. Jean-Pierre Léaud spielte das alter ego Truffauts in dessen Durchbruchserfolg SIE KÜSSTEN UND SIE SCHLUGEN IHN (1959), im Kurzfilm LIEBE MIT ZWANZIG (1962), in der éducation sentimentale par excellence GERAUBTE KÜSSE (1968), in der unbehaglichen Bürgerlichkeit von DAS EHEDOMIZIL (1970) und als Schriftsteller, dem Erinnung, erotische Phantasie und schnöder Alltag in LIEBE AUF DER FLUCHT (1979) durcheinander fließen. Wie die Geschichten um Antoine folgt auch THE DIARY OF A TEENAGE GIRL einer assoziativen Struktur und bedient sich der Darstellungsformen des Bekenntnisses und der Populärkultur. Wie der ganz junge Antoine leidet Minnie unter der mangelnden Zuneigung der Erwachsenen - Monroe verleugnet die Beziehung zu ihr, was verständlich und doch herzlos ist. Wie der mitteljunge Antoine verliert sie ihre Unschuld durch einen älteren Partner. Wie der vermeintlich reife Antoine erschafft sie sich eine Gegenwelt erotischer Erfüllung in der Kunst - nicht als Autorin, aber als begnadete Zeichnerin.
Nichtsdestoweniger hätte Truffaut wohl 'NON!' zu THE DIARY OF A TEENAGE GIRL gesagt. Abgesehen vom emanzipatorischen Ethos, das ihn irritiert hätte, hätte er sicherlich den sexuellen Materialismus Marielle Hellers missbilligt. Minnie sagt, sie suche die Liebe, doch Ausdruck findet das nur in der Jagd nach Penissen. Manisch füllt sie ihre Skizzenbücher mit männlichen und weiblichen Geschlechtsteilen. Durch Animation regen sie sich zu erregtem Leben, rauschhafte Einbildung, wie sie Minnie auch durch zunehmenden Drogengenuss zuteil wird, der das Flower-Power-Kalifornien der späten Hippie-Ära prägte. Wenn die Stimme der Liebe längst verstummt ist, wenn sogar schon der Abspann vorübergezogen ist, beharrt ein gemalter, sich entladender Phallus noch im allerletzten Bild des Films auf seiner Herrschaft.
Womöglich mehr als Regisseurin und Drehbuchautorin Marielle Heller steht Phoebe Gloeckner, die die comichafte Romanvorlage zu THE DIARY OF A TEENAGE GIRL lieferte, Francois Truffaut zugleich sehr nahe und ganz fern. Was die Kritik über Truffaut sagte, nämlich, dass der sich mit dem Antoine-Doinel-Zyklus eine Lebensgeschichte und ein Charakterpoträt seiner selbst nach eigenem Gusto schuf, findet sich bei Minnie Goetze wieder. Das äußerlich unscheinbare Mädchen mit den großen Kulleraugen und den infantilen Ponyfransen ist eine unzuverlässige Erzählerin ihrer selbst. Denn was ihr zustößt, einschließlich der Affäre mit Monroe, scheint weniger ein Produkt der Realität als ihres Zeichenstifts zu sein, mit dem sie sich ausmalt, was ihr die Regeln der Anziehungskraft zu versagen drohen. So eng Minnie - und vielleicht auch ihre eigentliche Schöpferin Phoebe Gloeckner - das Abenteuer des erfundenen Lebens mit Antoine Doinel/Francois Truffaut aber vereint, so sehr trennt sie der Mangel an echter Poesie in THE DIARY OF A TEENAGE GIRL. Während die Poesie als unlösbares Geheminis der Sinnlichkeit die Filme um Antoine Doinel bis heute funkeln lässt, erschöpft sich THE DIARY OF A TEENAGE GIRL am Beischlaf und mündet in diesem Zustand in einen moralinsauren, wenngleich milieusoziologisch interessanten Schluss ein. Immerhin erinnert THE DIARY OF A TEENAGE GIRL daran, was Kino einmal alles vermochte und wozu es eigentlich immer noch in der Lage sein könnte.
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