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THE DANCE OF REALITY (Chile/Frankreich 2013)

von Björn Lahrmann

Original Titel. LA DANZA DE LA REALIDAD
Laufzeit in Minuten. 130

Regie. ALEJANDRO JODOROWSKY
Drehbuch. ALEJANDRO JODOROWSKY
Musik. ADAN JODOROWSKY
Kamera. JEAN-MARIE DREUJOU
Schnitt. MARYLINE MONTHIEUX
Darsteller. BRONTIS JODOROWSKY . PAMELA FLORES . JEREMIAS HERSKOVITS . AXEL JODOROWSKY u.a.

Review Datum. 2014-01-10
Kinostart Deutschland. nicht bekannt

Mit Clowns kann man mich jagen. Vor allem aus dem Kino. Prasselt Spritzblumenwasser und Drehorgel-Rummtata von der Leinwand, sinke ich mit geschlossenen Augen ins Polster und winsle still um Gnade. Zirkus, Karneval, Vaudeville: Not my scene. Man möge mir also verzeihen, wenn ich nicht ganz der Richtige bin für THE DANCE OF REALITY, die kaum noch erwartete Rückkehr, ach was, Parusie Alejandro Jodorowskys zum Film - jener Kunstform, die der Meister selbst als Scheiße einer Kröte beschreibt, die einen Leuchtkäfer verschluckt hat.

Die obsessive Faszination für Ausscheidungen aller Art als Metapher und (meta)physischer Akt ist paradigmatisch für das Jodoverse, das eine eigentümliche Schnittstelle zwischen Symbolischem, Konkretem und konkretisiertem Symbol belegt. Ein Mann, der ein Radio kaputtpisst, weil es die falschen Nachrichten bringt; eine Frau, die einen Sterbenden mit Golddusche ins Leben zurückstrullt; ein beschnittener Junge, der sich schämt, weil er beim gespielten circle jerk mit Holzbananen als einziger an einem hölzernen Pilz herumwichst - all diese Bilder sind reich an semantischem Potenzial, das man ob ihrer baff machenden Körperlichkeit aber nur selten direkt mitbekommt.

Dass er das Krasse, Unmittelbare immer ein bisschen mehr liebt als den Bedeutungsweihrauch seiner markenzeichenhaften New-Age-Bonmots, macht Jodorowsky als Performer und Regisseur grundsätzlich sympathisch. Neben Mystiker, Psychomagier, Scharlatan ist er eben vor allem: ein Clown. Womit wir beim Personal des Films wären, das zwar nicht samt und sonders rote Nasen und Schlappschuhe trägt, aber doch - jeder auf seine Weise - grotesk, exzessiv, schrill ist. Erzählt wird eine Familiengeschichte, die Geschichte der jüdischen Familie Jodorowsky, die im chilenischen Küstendorf Tocopilla um 1930 einen Gemischtwarenladen betreibt. Der Vater strenger Stalinist, die Mutter gottesfürchtige Sopranistin, der kleine Alejandrito passionierter Crossdresser: All das ist aufrichtig wahr und närrisch fabuliert, autobiografische Freakshow und Heimatfilm, wie Fellinis AMARCORD einer war.

Ich bin mir unsicher, ob der Schauplatz die knatschbunten, grillenhaften Figuren eher erdet oder umso schärfer hervortreten lässt. In jedem Fall ist Tocopilla ein fantastisch irreales Setting, aufgebaut wie eine Basissiedlung im Western mit thoroughfare und nicht viel mehr, drumherum bloß gähnend aschgraue Mondlandschaft; am Strand liegen die Sci-Fi-Ruinen einer überdimensionierten Industrieanlage brach. Mit der Neugier des Zurückgekehrten flaniert Jodorowsky in episödchenhaften Rundgängen durch den Ort seiner Kindheit, wo hinter jeder Ecke ein Krüppel, Zwerg, Zauberwesen oder Spinner lauert. War meine diesbezügliche Overkillgrenze schon in SANTA SANGRE erreicht, wird sie hier mühelos überschritten; einzig die Opernsängerin Pamela Flores, die als Mutter jede ihrer Zeilen singt und dabei trotzdem wirkt wie ein Ebenbild elterlicher Vernunft, ist ein Rettungsanker im Meer der Marotten.

In der zweiten Hälfte verlässt der Film den magischen Realismus Tocopillas und wendet sich der anderen großen hispanischen Erzähltradition zu: Jodorowsky Senior (gespielt von Jodorowsky Junior) zieht aus, Chiles Präsident Carlos Ibáñez zu töten, und landet mitten in einer Pikareske. Als Attentäter von trauriger Gestalt stolpert er in Hundekostümshows und Naziparaden, wird Pferdeflüsterer und Zimmermann, findet Verdammnis und Erlösung. Aus der Läuterung der zornigen Vaterkarikatur in Abwesenheit des Sohnes, der sie im selbsttherapeutischen Rückblick imaginiert, zieht THE DANCE OF REALITY viel Komik und Rührung und ist für eine Weile in hinreißender Balance. Leider (manche würden sagen: zum Glück) war Balance noch nie Jodorowskys Ding, auch im hohen Alter nicht. "Dreiundzwanzig Jahre habe ich gebraucht, um diesen Ozean auszukotzen", sagt er selbst. Wer das als Einladung zum Mitschwimmen versteht, kann guten Gewissens den Schnorchel einpacken.











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