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CANDYMAN (USA 2021)

von André Becker

Original Titel. CANDYMAN
Laufzeit in Minuten. 91

Regie. NIA DACOSTA
Drehbuch. JORDAN PEELE . WIN ROSENFELD . NIA DACOSTA
Musik. ROBERT AIKI AUBREY LOWE
Kamera. JOHN GULESERIAN
Schnitt. CATRIN HEDSTRÖM
Darsteller. YAHYA ABDUL-MATEEN II . TEYONAH PARRIS . VANESSA WILLIAMS . NATHAN STEWART-JARRETT u.a.

Review Datum. 2021-09-19
Kinostart Deutschland. 2021-08-26

Der britische Schriftsteller Clive Barker wurde lange Zeit (vor allem am Anfang der neunziger Jahre) als einer der besten Horrorautoren der Gegenwart eingestuft. Sowohl seine Kurzgeschichten (zusammengefasst in der sechsteiligen Reihe DIE BÜCHER DES BLUTES) als auch seine längeren Werke (SPIEL DES VERDERBENS etc.) wurden ziemlich früh, ziemlich frenetisch abgefeiert und haben im Laufe der Jahre verdientermaßen Kultstatus erreicht. Die ersten Verfilmungen ließen erwartungsgemäß nicht lange auf sich warten. Mit HELLRAISER und CABAL wurden dabei faszinierende filmische Visionen geschaffen, die nichts von ihrer kinematographischen Kraft eingebüßt haben.

1992 folgte schließlich die Verfilmung von Barkers Kurzgeschichte DAS VERBOTENE (erschienen im fünften Teil der Bücher des Blutes). Unter dem Titel CANDYMANS FLUCH schuf der Regisseur Bernard Rose eine würdige Interpretation der Vorlage, die sicherlich als einer der meist unterschätzten Horrorfilme der neunziger Jahre bezeichnet werden muss. Seiner Zeit weit voraus verband Rose Themen wie Ghettoisierung, Gentrifizierung und soziale Segregation mit klassischen Genrefilm-Motiven, bei denen er geschickt Teile der Vorlage variierte und weiterdachte. CANDYMANS FLUCH wirkt fast 30 Jahre nach Erscheinen noch immer sehr gegenwärtig und keinesfalls angestaubt. Die ikonische Darstellung von Tony Todd in der Rolle seines Lebens tut ihr Übriges und hievt den Film vollkommen zu Recht in diverse Bestenlisten (über die verzichtbaren Fortsetzungen hüllen wir besser den Mantel des Schweigens).

Die Neuverfilmung von Nia DaCosta muss deshalb vor allem Zweierlei unter Beweis stellen. Ein CANDYMAN im Jahr 2021 MUSS im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Fragen etwas zu sagen haben und darf nicht nur grobes Horror-Entertainment ohne Mehrwert bieten. Gleichzeitig steht der Film vor der Herausforderung alle Zuschauergruppen inszenatorisch abzuholen und hier in einem Rahmen zu bleiben, der anspruchsvolles Kino möglich macht, diesbezüglich aber die Sehgewohnheiten des Mainstreams ausreichend berücksichtigt. Soll heißen: Intelligentes Horror-Kino ist ausdrücklich gewünscht, zu verkopft und sperrig darf das Endprodukt aber wiederum auch nicht werden.

Im Zentrum der Handlung steht abermals der Chicagoer Bezirk Cabrini Green, der den Status als sozialer Brennpunkt mittlerweile abgeschüttelt hat und nun als hipper Szene-Kiez daherkommt. Wo früher Elendsviertel vor sich hin vegetierten, wohnt nun das Geld, was Nia DaCosta durch die Darstellung des sozialen Milieus, in dem sich ihre Hauptfiguren bewegen, mehr als deutlich macht. Der Künstler Anthony McCoy (toll gespielt von Yahya Abdul-Mateen II) ist Teil der homogenen, sozial gleichgeschalteten Einwohnerschaft, seine erfolgreichen Tage liegen jedoch lange zurück. Der Druck endlich wieder etwas Aufsehenerregendes abzuliefern lastet insofern schon lange auf ihm. McCoy braucht deshalb neue, frische Ideen abseits der üblichen Schwerpunktthemen im Kunst-Business. Als der junge Maler durch Zufall auf die Geschichte der Doktorandin Helen Lyle und die Legende des Candymans stößt, ist seine künstlerische Blockade wie weggeblasen. Ohne zu wissen welche Macht er damit freisetzt, dringt McCoy immer tiefer in die Jahrhunderte alte Mythologie des Candymans ein. Mit fatalen Folgen, denn die ersten Toten in einer Kunstgalerie sind erst der Anfang.

CANDYMAN fokussiert sich inhaltlich in erster Linie auf das Thema Gentrifizierung und die offensichtlichen und weniger offensichtlichen Folgen für die Stadt und ihre Bewohner. DaCosta geht dabei wenig subtil vor und setzt auf eindeutig interpretierbare, unmissverständliche Bilder. Gentrifizierung bedeutet für die Regisseurin vor allem das zerstörerische Verschwinden ehemals dominanter räumlicher und sozialer Kontexte. Ersetzt werden diese Zusammenhänge durch neue innerstädtische Gegebenheiten, die in einer ins Perverse verkehrten Überbietungslogik immer neue Extreme und Exzesse schafft. Mögen die Wohnungen noch so luxuriös sein, die Wolkenkratzer sich in immer größere Höhen aufschwingen, was auf der Strecke bleibt ist die Seele eines Ortes, die den jeweiligen Bezirken geradezu entrissen wird.

Der Candyman, der durch das fünfmalige Rufen in ein Spiegelbild hinein heraufbeschworen wird, tritt somit in eine Leerstelle bzw. in eine Art offene Wunde, die das Einsickern von Tod und Gewalt geradezu herausfordert. Die Legendenbildung des Candymans (dessen Taten auf hundert Wänden und zehntausend Lippen waren, wie es so schön in der literarischen Vorlage heißt) ist somit in der Neuverfilmung noch stärker als im Film von 1992 an städtische und damit einhergehende soziale Entwicklungen gekoppelt, die einen todbringenden Bedeutungszusammenhang schaffen, der dazu führt, dass die Spirale von Gewalt und Gegengewalt zeitlich und räumlich entgrenzt in Gang gesetzt wird.

DaCostas CANDYMAN bietet zwar allerlei eindeutiger Statements zum Thema Gentrifizierung, durch die Entscheidung ihren Film im Kunst-Milieu anzusiedeln und ihre Hauptfigur als unangepassten Künstler-Outlaw anzulegen schafft die Regisseurin aber spannende Anreize zur Interpretation der sozialen Zustände im Amerika der Nuller Jahre. McCoy ist Teil der urbanen Kunstszene, bleibt aber dennoch (auch aufgrund seiner Hautfarbe) ein Fremdkörper. Nicht nur hier öffnet sich der Film ebenso für Klassendiskurse, die sich an den Themen Zugehörigkeit/Nicht-Zugehörigkeit und ihren habituellen Prämissen entlang hangeln und soziale Ungleichheiten gekonnt filmisch abbilden. Das Ganze gipfelt zwar nicht selten in soziologischen Allgemeinplätzen, bleibt aber insgesamt schlau genug um aus der Masse der Genre-Filme der letzten Monate positiv herauszustechen. Ähnlich wie Dan Gilroy bei DIE KUNST DES TOTEN MANNES nimmt auch DaCosta die elitäre Kunstwelt aufs Korn, setzt die Schwerpunkte aber wesentlich stärker auf eine Kontextualisierung weißer Dominanz. Nach wie vor sind es (so legt es der Film nahe) einige wenige Personen aus dem weißen Establishment, die bestimmen, welche Kunst gehypt wird oder welcher Künstler wieder in der Versenkung verschwindet. Satirische Elemente werden von DaCosta dabei selten, aber pointiert eingesetzt (etwa bei McCoys Galerist und seiner in Joy-Division-Zitaten palavernden Freundin).

Auf der Horror-Ebene arbeitet DaCostas Fortführung der Candyman-Geschichte mit wenigen, aber durchweg wirkungsvollen Sequenzen: Sei es das erste Auftauchen des Candymans in einer Kunstgalerie oder das blutige Intermezzo in einer Schultoilette. CANDYMAN gelingt es bei jeder dieser Szenen außergewöhnliche Perspektiven einzusetzen und diese virtuos in den filmischen Look zu integrieren. Das beständige Spiel mit Spiegeln und Schatten verleiht dem Film zudem eine stilistisch eigenwillige Note, die von DaCosta sehr selbstsicher aber nie angeberisch eingesetzt wird. Unterstützt durch die hervorragende Effektarbeit, die eine gesunde Härte atmet um die Horror-Community zufrieden zu stellen aber keineswegs in selbstzweckhafte Splatter-Orgien ausartet, bietet der Film gehobenes Horror-Entertainment, dass angesichts des fast vollständigen Verzichts von Jump scares und dem dezenten Einsatz von CGI geradezu altmodisch daherkommt. Besondere Erwähnung sollte außerdem die hervorragende musikalische Untermalung finden, die entscheidend zur besonderen Atmosphäre des Films beiträgt und die z.B. bei der Eingangssequenz für Gänsehaut sorgt.

Der Neustart der Candyman-Legende, dessen Kino-Release bedingt durch die Coronapandemie mehrfach verschoben wurde, darf deshalb guten Gewissens als gelungene Überführung der Vorlage(n) in die Jetztzeit bezeichnet werden. Sicherlich nicht auf allen Ebenen perfekt (einzelne Figuren sind arg stereotyp geraten), aber doch ein Film der mit viel Verve inszeniert wurde und der seine Stärken gekonnt zum Einsatz bringt. Untern Strich ist CANDYMAN intelligente Horror-Unterhaltung, wie man sie viel zu selten im Multiplex-Kino zu sehen bekommt. Bitte mehr davon.











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