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AUS DEM NICHTS (Deutschland/Frankreich 2017)

von Andreas Günther

Original Titel. AUS DEM NICHTS
Laufzeit in Minuten. 106

Regie. FATIH AKIN
Drehbuch. FATIH AKIN . HARK BOHM
Musik. JOSH HOMME
Kamera. RAINER KLAUSMANN
Schnitt. ANDREW BIRD
Darsteller. DIANE KRUGER . DENIS MOSCHITTO . NUMAN ACAR . JOHANNES KRISCH u.a.

Review Datum. 2018-01-09
Kinostart Deutschland. 2017-11-23

AUS DEM NICHTS läuft noch im Kino. Doch selbst wenn der neueste Film von Fatih Akin bald abgesetzt würde, dürfte er uns auch noch im nächsten Jahr beschäftigen. Für die "Golden Globes", die am 7. Januar verliehen werden, ist das Rachedrama als bester fremdsprachiger Film nominiert. Und der Oscar in derselben Kategorie ist ein Stück weiter in Reichweite gerückt - nach dem Sprung unter die letzten 341 Filme in dieser Auswahl. Über den Jahreswechsel wird Fatih wohl eifrig mit seinem Idol und guten Freund Marty Scorsese telefonieren und Pläne schmieden, wie die Academy von den außerordentlichen Vorzügen von AUS DEM NICHTS zu überzeugen ist.

Die Chancen stehen vielleicht nicht schlecht. In sich versunken stapft Diane Kruger als Witwe Sekerci unter den Vergnügen anpreisenden Schildern des Hamburger Kiez einher wie weiland Robert De Niro als Travis Bickle im New Yorker TAXI DRIVER. Selbstjustiz ist in den USA ein attraktives Thema. Und die Sekerci hat dafür einen weitaus besseren Grund als Travis Bickle. Ob daraus ein guter Film geworden ist, ist eine ganz andere Frage. Ein großes Nachrichtenmagazin stellte seine Kritik ungewöhnlicherweise erst am Tag des Kinostarts online, eine große Zeitung gar erst am folgenden Montag. AUS DEM NICHTS sorgt für Kopfkratzen. Es schlummert etwas Beunruhigendes darin, das bei Fatih Akin so nicht zu erwarten gewesen ist und womöglich von den konservativen Einflüssen herrührt, die die Sozialisation seines Co-Autors Hark Bohm geprägt haben.

Dabei dürfte es zunächst einmal unmöglich sein, von Diane Kruger nicht erschüttert zu sein. Sie verkörpert Katja Sekerci, die auf einen Schlag nicht mehr Ehefrau und Mutter ist, weil ihr Ehemann, der in der Türkei gebeorene kurdischstämmige Übersetzer und gelegentliche Steuerberater Nuri (Numan Acar), und ihr kleiner Sohn bei einem Nagelbombenanschlag ums Leben kommen. Die Polizei sieht Nuri, der wegen Drogenhandels vorbestraft ist, weniger als Opfer denn als Täter, wenn sie bei ihren Ermittlungen stur die These einer Abrechnung unter kriminellen Migranten verfolgt. Dass Katja vor der Tat eine junge deutsche Frau bemerkt hat, die sich merkwürdig verhalten hat, interessiert niemanden.Nur durch ein Zufall fasst die Polizei ein junges Neonazi-Ehepaar, das offenbar hinter dem Attentat steckt. Doch das Gericht spricht die beiden frei.

Diane Kruger lässt die Trauer um ihre Liebesten und die Verzweiflung über den Mangel an Gerechtigkeit tief in den Leib ihrer sich im Seelenschmerz windenden Figur eindringen. Trotz ihrer Drastik wirkt die Pein niemals aufgesetzt. Umgekehrt ist sie auch dann noch spürbar als Vibration in den Gliedern und entstellende Versteinerung des Gesichts, wenn die Umstände - wie etwa die Gerichtsverhandlung - Fassung auferlegen. Somit hat die Jury der Fimfestspiele von Cannes 2017 alles richtig gemacht, als sie, aus so herausragenden weiblichen Persönlichkeiten des Kinos wie Maren Ade, Jessica Chastain und Agnès Jaoui gebildet, Diane Kruger den Preis für die beste Hauptdarstellerin zuerkannt haben. Oder etwa nicht?

Tatsächlich passiert Fatih Akin mit dieser Katja Sekerci etwas Ähnliches wie Hitchcock mit Blondinen wie Tippi Hedren in DIE VÖGEL und Kim Novak in VERTIGOoder Kechiche mit seiner Adèle in BLAU IST EINE WARME FARBE: Die obsessive Aufmerksamkeit, die auf ihnen ruht, entrückt sie auf sadistische Weise dem Leben und der Welt. Es kommt daher wohl nicht von ungefähr, dass Diane Kruger gesagt hat, ihre Rolle hätte sie fast getötet. Die Zwangsläufigkeiten, die Akin und Bohm für Katja Sekerci konstruieren, münden in ein Frauenbild, das zwischen archaischem Rache- und Todestrieb und patriarchaler Entmündigung im Doppelgeist des frühen Christentums und hegelianischer Staatsideologie pendelt.

Der Mord an Mann und Kind soll nicht ungesühnt bleiben, wenn die Justiz versagt. Das wäre ein völlig ausreichendes Motiv für Rache. Allein Akin und Bohm wollen sich nicht damit zufrieden geben. Sie fordern die Ignoranz des Daseins gegenüber seinen Opfern selbst heraus, und Katja Sekerci ist ihr Vehikel. Mit ihr soll es kein Weiterleben nach ihrem ungeheuren Verlust geben. Der Preis für diese Dramaturgie ist eine groteske Übersteigerung, die in Realitätsverleugnung und Misogynie abdriftet.

Die Ignoranz der Umwelt gegenüber dem Leid der Katja Sekerci hat eine subjektive und eine objektive Seite. Die subjektive ist mit teilweise brillanter Maliziösität beobachtet. Freundin Birgit (Samia Muriel Chancrin), die bald ein Kind zur Welt bringen wird, wirft einen gierigen Blick auf das Trampolin in Katjas Garten: Das braucht sie doch nicht mehr, oder? Der Anblick von Birgits Kleinem lässt Katja ihr Unglück nur umso tiefer empfinden. Ihr Anwalt Danilo (Denis Moschitto) sorgt sich derweil eher darum, rechtzeitig zuhause bei seinen Sprößlingen zu sein als Katja ordentlich zu betreuen.

Mit der objektiven Seite tut sich AUS DEM NICHTS verhängnisvoll schwer. Der Abspann weist auf die NSU-Morde hin, die an Menschen aufgrund ihrer Herkunft begangen worden seien. Offenbar soll dies zur Erklärung der Einseitigkeiten der polizeilichen und juristischen Aufarbeitung des Film-Falles dienen. Darauf wäre der Zuschauer wohl auch allein gekommen, schließlich ist durch Dokumentarspiele und die Verhandlung gegen Beate Zschäpe mit den ergreifenden Plädoyers der Nebenkläger einiges Licht auf die Vorurteile des Justizapparates geworfen worden. Aber sich ausdrücklich auf die NSU-Morde zu beziehen, sie als eine Lesart des Films in Anspruch zu nehmen, regt zur kritischen Prüfung an. Erstens erscheint es trotz des Prozesses gegen Zschäpe zu früh, um eine abschließende Aussage über die Motive der NSU-Mitglieder zu treffen. Dafür sind deren Verbindungen zu verschiedenen Geheimdiensten - einschließlich des BND - noch viel zu unklar, ganz zu schweigen davon, wie der Mord an einer biodeutschen Polizistin einzuordnen ist.

Zweitens bekommt AUS DEM NICHTS das Problem, dass nicht einmal die fragwürdige Behandlung der NSU-Taten die Schwarzweißmalerei des Films rechtfertigen kann. Schauplatz ist unzweideutig Hamburg. Multikulti erfreut sich hier hartnäckiger Beliebtheit, Antifaschismus nimmt bisweilen sehr militante Züge an, und auch die konservative Presse vertritt am liebsten linke Positionen. Und in dieser Stadt soll es keinen einzigen Journalisten geben, der Interesse an Katjas Version der Ereignisse hat, nicht einmal einer von der "Taz"? Es soll ferner kein Interesse von Seiten der Familie des toten Ehemanns geben, die Täter aufzuspüren? Und keinen Antifa-Verein, der Katja unterstützt? Und auf der anderen Seite soll die einzige Sorge der Täter, die sich nach Griechenland abgesetzt haben, darin bestehen, dass sie an ihrem Wohnort im Hamburger Umland von Reportern belästigt werden könnten? Ohne den Aktivisten des Gängeviertels, der Roten Flora oder der Hafenstraße Gewaltbereitschaft nachsagen zu wollen, dürften sie doch indigniert ob der Protestlosigkeit sein, die ihnen AUS DEM NICHTS unterstellt. Wenn Hamburg derartig auf ein spektakuläres Attentat reagiert, kann es nur in einem totalitären, gleichgeschalteten Staat liegen. Das ist doch sehr unwahrscheinlich.

Fatih Akin und Hark Bohm, beide fest verwurzelte Hamburger, glauben das nicht im Ernst. Deshalb halten sie noch eine andere Lesart bereit. Diese als Realitätsverleugnung zu bezeichnen, wäre zu schwach. Denn ihre furchtbare Konsequenz ist, dass die Frau ohne Mann und Kind kein gesellschaftliches Wesen ist. Dass Katja von Männern "abhängig" ist, unterstreicht die Drogenmetaphorik. Sie heiratet den Mann, von dem sie als Studentin Gras bezogen hat. Sie erhält von ihrem Anwalt Koks, das es ihr erlaubt, sich gegenüber Eltern und Schwiegereltern zu behaupten. Allein, ohne Bindung an einen Mann, hat Katja keine gesellschaftliche Position.

Ohne eigenes Einkommen, lebt sie als Witwe von der Lebensversicherung ihres Mannes. Sie hat ihr Studium der Germanstik und Kunstgeschichte abgebrochen, während ihr Mann sogar im Gefängnis das der BWL erfolgreich abgeschlossen hat. Das Terroristen-Pärchen hat zwei Verteidiger, aber nur der männliche Verteidiger spricht. Das Merkmal "verheiratet" ist mit den freigesprochenen Tätern so verbunden wie das Merkmal "ohne Mann" mit Katja, der niemand glaubt. Das Drehbuch hat ihr nicht einmal ein abgebrochenes Anglistik-Studium zugebilligt und risikiert damit sogar ein erhebliches Glaubwürdigkeitsproblem, wenn sich die vielfach tätowierte Prollfrau ("Aber voll, eh!") auf der Spur des Terroristen-Pärchens in Griechenland in Diane Krugers amerikanischem Englisch verständigt.

Was ist das für ein Frauenbild, in dem die alleinstehende Frau gesellschaftlich nichts gilt? Zum Beispiel das des frühen Christentums: Bei Paulus ist der Mann das Haupt der Frau. Oder das des Idealismus: Bei Hegel ist die Frau nur über den Mann mit der bürgerlichen Gesellschaft verbunden, sie selbst kommt in dieser Sphäre nicht vor. Diese Auffassung ist "selbstverständlich heute überholt", meinen Arndt und Zovko in ihrem Buch über "Staat und Kultur bei Hegel". Vielleicht eine lohnende Lektüre für die Herren Akin und Bohm, die im naturalistischen Dekor der Gegenwart das Geschlechterverhältnis anno 1810 unterjubeln.

Für ihr Zerrbild suchen die Autoren die Wucht symbolischer Allgemeingültigkeit. Sintflutartiger Regen, als ob die ganze Schöpfung gefährdet ist, substituiert Katjas Tränen und schottet sie gegen die Außenwelt ab. Die Flammen aus der Explosion am Schluss schlängeln sich pyrotechnisch sogfältig eine Zeder hinauf, als stünde der Baum des Lebens selbst zur planvollen Vernichtung an. Nicht gesellschaftsfähig, bleibt Katja nur der Rückschritt hinter das Zivilisatorische, das mit Ablösung der Erinnyen und der Einführung des Rechts - siehe die "Orestie" - begonnen hat. Das heißt Rache unter dem Einsatz des eigenen Lebens, um die erlittene Gesellschaftsunfähigkeit heimzuzahlen. Gewinnen kann sie dabei nichts, sie muss sich in einem perfide perspektivlosen Szenario einem nach außen wie nach innen gerichteten Todestrieb unterwerfen. "Ins Nichts" wäre ein passenderer Titel gewesen. Haben Maren Ade, Jessica Chastain und Agnès Jaoui das gesehen, als sie ihren Preis an Diane Kruger vergeben haben?











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