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ATOMIC BLONDE (USA/Deutschland/Schweden 2017)

von Andreas Günther

Original Titel. ATOMIC BLONDE
Laufzeit in Minuten. 115

Regie. DAVID LEITCH
Drehbuch. KURT JOHNSTADT
Musik. TYLER BATES
Kamera. JONATHAN SELA
Schnitt. ELISABET RONALDSDÓTTIR
Darsteller. CHARLIZE THERON . JAMES MCAVOY. JOHN GOODMAN . TOBY JONES u.a.

Review Datum. 2017-08-24
Kinostart Deutschland. 2017-08-24

An den US-amerikanischen Kinokassen tut sich ATOMIC BLONDE recht schwer. Aber das ist auch kein Wunder. Oder hat jemand erwartet, dass sich amerikanische Teenager für einen retroästhetischen Berlin-Thriller begeistern, der in den Hits der Neuen deutschen Welle badet? Für unsereins und manche andere Europäer ist das Vergnügen umso größer. Charlize Theron spielt umwerfend eine undurchsichtige und nachlässig glamouröse Agentin nach einem Skript, das erstaunlicherweise eher die literarische Bearbeitungen der geteilten Stadt aus den 1980er Jahren als die zwei Jahrzehnte älteren Agentenfilme oder die Graphic Novel-Vorlage atmet. Doch es wirkt noch viel mehr daran mit, dass die verfüherische Atmosphäre einer in aller Härte verzaubert und augenwzinkernd wiedererblickten, aufregenden Zeitenwende entsteht.

Ende Oktober, Anfang November 1989 steht die Berliner Mauer kurz vor dem Fall. Die Geheimdienste der bald abtretenden westlichen Besatzungsmächte fürchten angesichts des zu erwartenden Chaos, dass ihre Agentenlisten aus dem zu Ende gehenden Kalten Krieg in die falschen - nämlich russischen Hände geraten. Anlass zur Besorgnis bietet den Briten die Ermordung ihres Agenten James Gasciogne (Sam Hargrave), der an einem potenziellen Überläufer mit dem Codenamen Spyglass (Eddie Marsan) und Listen von Doppelagenten dran war. Unterdem Vorwand, die Leiche zu überführen, soll Agentin Lorraine Broughton (Charlize Theron) die Arbeit von Gasciogne fortsetzen. Letztlich lautet das Zeil, einen 'Thatchill' genannten Maulwurf zu enttarnen. Lorraines Kontaktmann in Berlin, David Percival (James McAvoy), erweist sich jedoch eher als undursichtig denn hilfreich. Lorraine erkennt, dass sie eigene Wege gehen muss, und riskiert viel, um Spyglass vom Ostteil der Stadt in den Westteil zu bringen.

Wer bei ATOMIC BLONDE Haare in der Suppe sucht, wird schnell fündig oder meint es zu werden. Der unterm Schlafrock nackte Mann, der im leichten Schneetreiben vor Verfolgern durch Berliner Hinterhöfe irrt, bis ihn jemand scheinbar zufällig anfährt, setzt eine parodistische Note, die in die Irre führt. Tatsächlich durchziehen den Film unleugbar Tonalitätsprobleme. Naturalistische Actionszenen mit Sprüchen wie "Schnallen Sie sich lieber an" oder "Nenn'mich nie wieder Schlampe" krönen zu wollen, ist kontraproduktiv. Dass der größte Teil des Films als Rückblende erzählt wird, darf dagegen nicht als Makel betrachtet werden, sondern vielmehr als Vorzug. So wird der Melancholie Rechnung getragen, die auch die Spättage des Kalten Krieges in den Romanen von John Le Carré prägt. Und es verdoppelt geschickt das Verhältnis zur Vergangenheit, in das sich der Film begibt.

Und wie ATOMIC BLONDE diese Vergangenheit zum Leben erweckt, ist ein Triumph der Komposition auf allen Ebenen. In seiner Erzählung 'Die Berliner Simulation' von 1983 schreibt Bodo Morshäuser: "Es gibt viele Gerüchte. Auch jenes, daß von vieren, die beieinanderstehen, einer für die andere Seite arbeitet. Sally lacht. 'Aber für welche andere Seite denn, hier vor dem Lokal?' Die Jungs sind schon lange aus dem Bild, und inzwischen hat eine Riege Polizisten das leere Lokal gestürmt. Wer am lautesten lacht, darf seinen Ausweis zeigen.' Es ist fast unmöglich, dass ATOMIC BLONDE-Autor Kurt Johnstad nicht diese oder ähnliche Zeilen gelesen hat. Was Morshäuser als kribbelndes Spiel der Subkultur mit genussvoller Pseudo-Klandestinität, dräuender Paranoia und entgrenzter medialer Vermittlung treibt, reimt Johnstadt geschickt mit Subversion und Spionage, wenn Percival sich als Punkkonzerte im Osten veranstaltender Rebell gegen die Obrigkeit betätigt und Lorraine zwangsläufig in den Bars, in denen sie auftaucht, auf russische Agenten trifft. "Geheimnisse regieren die Welt" - Morshäuser umschreibt in seiner Erzählung diesen Satz, Percival spricht ihn aus, mit Berlin als Beweis für seine Richtigkeit.

Der Zeitgeist ist gleichzeitig auch ein medialer und musikalischer. Kontrapunktisch zu Lorraines Klamottenwechsel in einem loftartigen bunten Zimmer und höchst geheimen Manipulationen an Tonmaterial lärmen bundesrepublikanische Fernsehnachrichten, die den Mauerfall herbeisehnen, herbeibeschwören, herbeijubeln. Ob der Neue deutsche Welle-Hit 'Major Tom' von Peter Schilling passt, daran sind zunächst Zweifel angebracht, aber die Zeilen "Gründlich durchgecheckt steht sie da und wartet auf den Start - alles klar!" blasen sie angesichts von Lorraine einfach weg. Nenas "99 Luftballons" sind geradezu leitmotivisch eingesetzt, als Hymne, zu der ostdeutsche Jugendliche hölzern breakdancen, aber in ihren melancholischen Passagen, unterstützt von der schleppenden Wiedergabe über Lautsprecher beim Fall der Mauer, auch ein Requiem für die Geliebte abgegeben, um die Lorraine trauert.

Überhaupt Charlize Theron als Lorraine Broughton. Mit ihrem weißen Flauschmantel und den hohen Absätzen, der Deborah-Harry-Frisur, den Eisbädern, dem Whiskey-Konsum und ihrer Hingabe an die Niktonsucht mit der Zigarette als Partnerersatz hat sie als 'Atomic Blonde' einen auratischen Auftritt sondergleichen. Sie hebt sich hundertprozentig von dem - man muss es so sagen - Mauerblümchen der Graphic Novel aus den Federn von Antony Johnston und Sam Hart ab. Sie agiert als modische Ikone und Emblem der David-Bowie-Sichtweise auf den Stil der 1980er Jahre. Hervorragend passt dazu die Entrücktheit tranceartiger Langsamkeit, mit der sie sich in allen ruhigen Szenen bewegt und regt, und die jeder Geste eine erinnerungswürdige Bedeutsamkeit verleiht. Aber getreu der Hollywood-Spielweise ist die gleichsam vegetative Starre auch die Vorbereitung zur Explosion in der Aktion, die geduldig und mitreißend, mit wenigen Schnitten und aufzehrenden Kämpfen in alten Wohnungen und engen Straßen entlang der Mauer inszeniert ist. ATOMIC BLONDE ist zugleich völlig losgelöst und mittendrin. Der Gastauftritt von Til Schweiger stört übrigens nicht.











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