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ANONYMUS (Großbritannien/Deutschland 2011)

von Benjamin Hahn

Original Titel. ANONYMOUS
Laufzeit in Minuten. 131

Regie. ROLAND EMMERICH
Drehbuch. JOHN ORLOFF
Musik. HARALD KLOSER . THOMAS WANKER
Kamera. ANNA FOERSTER
Schnitt. PETER R. ADAM
Darsteller. RHYS IFANS . VANESSA REDGRAVE . JOELY RICHARDSON . DAVID THEWLIS u.a.

Review Datum. 2011-10-13
Kinostart Deutschland. 2011-11-03

Die Idee, dass es sich bei William Shakespeare nicht um den Urheber der ihm zugeschriebenen Werke handelt, sondern er für einen anderen die Werke in seinem Namen veröffentlichte, ist nicht neu und in gewisser Weise nachvollziehbar. Sein Tod im Jahr 1616 blieb weitestgehend unbeachtet und ihn betreffende, historische Dokumente sind auch eher rar gesät. Kein Wunder also, dass schon seit etlichen Jahrzehnten diverse Theorien über die "wahre Urheberschaft" kursieren, die mal mehr, mal weniger plausibel sind. Gemein ist ihnen jedoch eine gewisse Löchrigkeit, die keine davon als eine wirkliche Alternative zur momentanen Geschichtsschreibung erscheinen lässt.

Historische Dokumente können verloren gehen, sei es durch Unfälle wie Brände (man denke da nur an das Große Feuer von London im Jahr 1666, das über 13.500 Häuser zerstörte) oder einstürzende Stadtarchive oder mutwillig geraubt oder zerstört werden. Und dass die Beerdigung Shakespeares ohne die Anteilnahme der Bevölkerung einherging, lässt Parallelen zu Wolfgang Amadeus Mozart erkennen, der in einem seinem Stand entsprechenden einfachen und anonymen Grab beerdigt wurde (das Mozartgrab auf dem Wiener Zentralfriedhof ist leer). Mag die Faktenlage für den ein oder anderen berechtigten Zweifel sorgen, bei genauerer Betrachtung bleibt der Zweifel am Zweifel berechtigter.

Doch trotz dieser argumentativen Lücken halten sich hartnäckig die wildesten Theorien um William Shakespeare. Vielleicht sind es aber auch gerade diese Lücken in jeder Theorie, die die Faszination an diesem Thema darstellen, fühlt man sich doch zuweilen bei dieser Diskussion wie in einem großen Historienkrimi, einem unentwirrbaren Mysterium. Die einzelnen Theorien zu überdenken, die Fakten zu ordnen und zu bewerten ist längst zu einer geistigen Beschäftigungstherapie für Literaturwissenschaftler geworden. Einer der prominentesten Gedankengänge in diesem Versuch einer Demaskierung ist den wahren Urheber der Shakepearschen Werke als Edward de Vere, Earl of Oxford, zu benennen. Es gibt einige Hinweise, die diese These stützen, aber keiner davon taugt wirklich etwas.

Das jedoch hindert Regisseur Roland Emmerich und Drehbuchautor John Orloff nicht daran, in ihrem Film ANONYMUS diese Urheberschaft quasi in Stein zu meißeln. Für beide ist klar, dass nur Edward als wahrer Autor der besagten Stücke infrage kommt und tatsächlich bringen beide die These so schlüssig auf die Leinwand, dass man gerne ihrer Theorie Glauben schenkt. Das Problem ist nur, dass es sich die beiden dabei viel zu einfach machen, damit beginnend, dass der Edward ihres Films ein wahres Wunderkind ist, das, Mozart gleich, bereits in seiner Kindheit wahre Meisterwerke zu Papier bringt. Während man sich also einerseits bemüht, die aus einfachen Verhältnissen stammenden Theaterautoren als talentiert, aber nie wirklich überragende Autoren darzustellen (und damit die Hollywood-Formel "Vom Tellerwäscher zum Millionär" negiert), versucht man andererseits glaubhaft zu vermitteln, dass der Junge aus der Oberschicht quasi von Geburt an eine Genialität sondergleichen mitbekommen hat.

Diese Darstellung wiederum bringt ein Problem hervor, das der Film elegant umschifft, indem er das Stück, in dem dieses Problem besonders offensichtlich wird, gar nicht erst thematisiert. Shakespeare war ein Autor, der die Inspiration zu seinen Stücken nicht immer nur in historischen Persönlichkeiten gefunden hat, sondern der sich auch mitunter sehr deutlich bei antiken Vorlagen bediente. TITUS ANDRONICUS z.B., sein Politthriller mit Kannibalismus-Thematik, basiert zu Teilen auf THYESTES von Seneca, zu Teilen auf den METAMORPHOSEN von Ovid. Shakespeare ist kein Wunderkind, das originäre Stoffe entwickelt. Er ist ein Autor, der erkannt hat, dass sich die Geschichte ständig wiederholt und der deshalb die Auseinandersetzung mit seiner Zeit in den Stoffen längst vergangener Tage findet. Und er perfektioniert die Art, wie er diese antiken Stoffe plündert: Ovid wird ihm nicht nur zur Vorlage für die Marter der einzigen Tochter des TITUS ANDRONICUS, er ist zugleich Ideengeber für A MIDSUMMER NIGHT'S DREAM und ROMEO AND JULIET.

Doch derlei Entlehnung und Weiterentwicklung kommt in der Welt des Duos Orloff/Emmerich nicht vor. Für sie ist der Autor Edward de Vere ein genialer und ehrbarer Edelmann, der durch seine Liebe zur Kunst alles aufs Spiel setzt und damit im krassen Gegensatz steht zur Person Shakespeare, einem mittelmäßig talentierten Schauspieler, der besoffen auf der Bühne steht, sich durch die Southwark hurt und sich zur kompletten Witzfigur macht. Da ist es nur folgerichtig, dass sich der Film bei seiner Erwähnung von ROMEO AND JULIET der romantischen Rezeptionsgeschichte bedient - dass ausgerechnet diese Liebestragödie durchzogen ist von sexuellen Anzüglichkeiten und einem derben Humor, der dem dauergeilen Trunkenbold Shakespeare mehr entsprochen hätte als dem noblen de Vere, das passt nicht ins Weltbild von Orloff und Emmerich. Ebenso wenig wie die homosexuellen Untertöne der Sonette und einiger anderer Werke, die hier im Film zur politisch motivierten Liebeserklärung stilisiert werden. Vielleicht hätten die beiden sich vor Produktionsbeginn noch einmal Baz Luhrmanns ROMEO + JULIET anschauen sollen, die hinsichtlich seiner Frivolität und sexuellen Offenheit wohl werkgetreuste filmische Adaption des Stücks.

Mögen diese Aspekte für sich genommen kaum wirkliche Kritikpunkte darstellen (bzw. überkritisch wirken), so ist es ihre Anhäufung, die Sorgen bereitet: Nur der Verzicht auf eine Ausdifferenzierung dieser Aspekte nämlich sorgt dafür, dass sich in diesem Film die These von der wahren Urheberschaft so reibungslos und in sich schlüssig erzählen lässt. Dementsprechend ist das kein zufälliges Fehlen und auch kein Flüchtigkeitsfehler bei der Recherche, sondern es ist - in Kombination mit dem Umschreiben einiger biografischer Details zentraler Personen - pure Manipulation all jener Zuschauer, die kein sonderlich großes Wissen über das elisabethanische Zeitalter und ihr Theater besitzen. Vor dem Hintergrund des real existierenden Streits in der Literaturwissenschaft um die Autorenschaft der Shakespeare-Werke kann man deshalb auch ruhig von einem Propagandafilm sprechen, der keinerlei Raum für Leerstellen mehr lässt, sondern sich seine Welt so zurechtbiegt, dass alles perfekt die These des Regisseurs und seines Drehbuchautors stützt.

Betrüblich daran ist vor allem, dass man Emmerich jenseits dieser raffiniert umgesetzten Verblendung, die eine denkbare, aber eben auch nicht mehr als mögliche These so geschickt erzählt, dass man sie als unumstößliche Wahrheit akzeptiert, nichts weiter vorwerfen kann: Die Dramaturgie ist auf den Punkt gebracht, die Schauspieler überzeugend, die Kameraarbeit stimmungsvoll, die Bauten und Effekte realistisch und die Musik angenehm dezent - wäre ANONYMUS nicht so unverschämt hanebüchen und manipulierend, er wäre mit Abstand Roland Emmerichs bestes Werk.











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