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127 HOURS (USA/Großbritannien 2010)

von Björn Lahrmann

Original Titel. 127 HOURS
Laufzeit in Minuten. 94

Regie. DANNY BOYLE
Drehbuch. DANNY BOYLE . SIMON BEAUFOY
Musik. A.R. RAHMAN
Kamera. ENRIQUE CHEDIAK . ANTHONY DOD MANTLE
Schnitt. JON HARRIS
Darsteller. JAMES FRANCO . KATE MARA . AMBER TAMBLYN . TREAT WILLIAMS u.a.

Review Datum. 2011-02-05
Kinostart Deutschland. 2011-02-17

Amerika liebt solche Geschichten: Im April 2003 unternimmt der junge Maschinenbauingenieur Aron Ralston einen Hiking-Trip im Blue John Canyon, Utah. Beim Kraxeln verkraxelt er sich, stürzt in eine Felsspalte, sein rechter Arm wird unter einem Gesteinsbrocken eingeklemmt. Vorbildlicher Ausrüstung zum Trotz sind alle Befreiungsversuche vergeblich; tagelang harrt Ralston aus, trinkt den eigenen Urin und spricht, als es eng wird, letzte Grüße an Mom und Dad in seinen Camcorder. Am fünften Tag, von Sinnen und am Ende seiner Kräfte, bricht er sich selbst die gequetschte Elle, durchtrennt mit stumpfem Taschenmesser das umliegende Gewebe, schafft es zurück auf ebenes Terrain und wird gerettet. In diesem Moment ist Aron Ralston ein Star. Letterman, Werbedeals, Survivalvorträge, Bestseller, Man of the Year - und natürlich Filmsubjekt.

Kaum jemand scheint für den Job weniger geeignet als Danny Boyle, den man wahrscheinlich nicht mal dann zum Stillsitzen bewegen könnte, wenn der Himalaya über ihm zusammen krachte. Hyperspastisches Ausrufezeichenkino in klaustrophobischer Enge - wie soll das gehen? Die übelsten Vorurteile werden gleich in den ersten zehn Minuten bestätigt: James Franco radelt zu Bratzgitarren fesch über Stock und rotbraunen Stein, zwischen Lenkerkamera und prolligen Helikopterschwenks liegt ein Schnitt, zwischen Schnitten eine Sekunde, wenn's hoch kommt. "Feel the spirit" raunt zwar keine Stimme aus dem türkisblauen Off, würde aber hervorragend passen zur Triple-Splitscreen-Globetrotter-Werbeästhetik, die, wenn sie schon nicht den Geist belebt, wenigstens das Hirn betäubt.

Der Sturz wendet Boyles Herangehensweise nur sehr tendenziell zum Erträglicheren. Wo Kunst aufs rohe Dasein zurückgeworfen ist, betont sie gern das Körperliche, Stoffliche, nacktes Fleisch, blanke Materie; Jahrhunderte von Christusgemälden künden davon, und was anders ist Ralstons Geschichte als ein Passionsspiel fürs Boulevard? Es gibt durchaus Momente in 127 HOURS, in denen Sinnliches mit viel Empathie ins Bild übertragen wird: das Raspeln von Handflächen auf Stein, das verzweifelte Spannen der Muskeln, das Recken halb erfrorener Füße in die Morgensonne. Wogegen der Film sich allerdings weitgehend sperrt, ist eine ähnlich haptische Vermittlung von Schmerz, Panik, zährender Dauer. Um dem Horror nicht direkt ausgeliefert zu sein, flüchtet Boyle sich in guinnessbuchhafte Darstellungsextreme, kilometerhohe Rückzooms aus dem Spalt in die Stratosphäre, mikroskopische Ansichten der Kohlensäurebläschen in Ralstons zur Neige gehender Trinkflasche.

Statt existenziellem Minimalismus also Maximalisierung des Kleinsten; nicht von der Mickrigkeit des Menschen in einer gottverlassenen Welt will 127 HOURS erzählen, sondern von seinem Triumph im Widerstand gegen sie. Allerlei Introspektion und Selbstbesinnung wird Ralston in seinem steinernen Verließ gewährt, auch, um dem Zuschauer das Martyrium nicht langweilig werden zu lassen. Klischeewässrige Emotionsbebilderung: Wehmut ist eine Urlaub-mit-Daddy-Erinnerung, Sehnsucht eine Blümchensex-mit-der-Ex-Phantasie. Selbst für bitterste Notdurft finden sich Plakatmotive: Der Verdurstende träumt von Kisten voll Crushed Ice und Dosenbier, der Verhungernde von Schokoriegelreklamen. Ob das ein Kommentar zum medialisierten Bewußtsein ist oder nur ein Vorwand, um Ralstons todgeweihte Selbstgespräche als Talkshow mit Laugh Track zu gestalten - wer weiß.

Franco indes zieht sich nobel aus der Affäre, ganz ohne nervtötendes Power-Acting und Läuterungsgehabe. Bloß ein Average Joe in der Klemme, mit gerade so viel Herz und Verstand, um ihm nicht den Tod zu wünschen. Schimpft nicht, weint nicht, und an den Arm geht er ran wie an ein Steak. Auch und gerade in dieser Sequenz (auf die man freilich wartet wie auf die Hochseilnummer im Zirkus) beweist Boyle nicht den nötigen Schneid, die Grenzen voyeuristischer Bekömmlichkeit zu verletzen. Fieberhaft montiert er ums Ärgste herum, fügt Röntgenblicke ins Arminnere ein, bandagiert die Stille mit lauter Musik. Reinster Ablenkungsfirlefanz, wie ein Kind, das im dunklen Keller pfeift. Nach überstandener Tortur singt Dido ein scheußliches Dido-Lied, das tut endlich mal richtig weh und ist folglich für einen Oscar nominiert, den Franco in diesem Jahr moderieren darf mit beiden Händen. Zum Abspann lächelt der echte Aron Ralston in die Kamera, er sitzt auf einer Couch in der Sonne, hat einen Arm, eine Frau, ein Kind. The human spirit prevails.











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